Kopftuch und Kreuz im Klassenzimmer

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Die - zuletzt aus der ÖVP laut gewordene - Forderung nach einem Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst berührt Grundrechte der Bürger. Es geht um die Spannung zwischen einer "ausgrenzenden" und einer "hereinnehmenden" religiösen Neutralität des Staates.

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Die - zuletzt aus der ÖVP laut gewordene - Forderung nach einem Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst berührt Grundrechte der Bürger. Es geht um die Spannung zwischen einer "ausgrenzenden" und einer "hereinnehmenden" religiösen Neutralität des Staates.

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Islamisches Kopftuch, Niqab und Burka sind seit Jahren zu einem Fixpunkt im Diskurs um die Präsenz von Religion bzw. religiöser Symbole in diversen öffentlichen Räumen geworden. Aktuell steht das Tragen dieser Bekleidung im öffentlichen Dienst im Fokus. Zwangsläufig kommt dann ein weiterer Dauerbrenner mit ins Spiel, das Kreuz in Klassenzimmer und Gerichtssaal.

Recht auf freie Religionsausübung

Die Beachtung religiöser Bekleidungsvorschriften - ob sie den Priestertalar, den Ordenshabit, die Kippa, das islamische Kopftuch, den Turban der Sikh oder anderes betreffen - ist ganz generell vom Grundrecht auf freie Religionsausübung umfasst. In Bezug auf das islamische Kopftuch ist heute grundsätzlich davon auszugehen, dass es sich um eine aus der islamischen Tradition begründbare Form der Religionsausübung handelt. Ungeachtet seines Ursprungs in einer patriarchalen Gesellschaft kann das Tragen des islamischen Kopftuches unter anderen gesellschaftlichen und rechtlichen Bedingungen gerade auch eine selbstbewusste Identität signalisieren. Dass es neben Frauen, die das Kopftuch aus eigenem freien Entschluss tragen, auch solche gibt, die dazu gezwungen werden, kann als sicher angenommen, darf aber nicht verallgemeinert werden.

Die individuelle Religionsfreiheit der betreffenden Frau stellt also den zentralen Ausgangspunkt dar. Ob oder inwieweit dabei von einer - mehr oder weniger - "üblichen Praxis" bzw. von "zwingenden religiösen Vorschriften" auszugehen sei, liegt außerhalb der Ingerenz des säkularen Rechts-und Verfassungsstaates. In einem solchen ist für ein allfälliges Verbot von Bekleidung, die als religiös wahrgenommen wird, jedenfalls eine differenzierte Betrachtungsweise unerlässlich.

Die Religionsausübungsfreiheit der Kopftuchträgerin im öffentlichen Dienst - ebenso wie etwa jene eines Kippa-oder Turbanträgers - ist zunächst mit der Verpflichtung des Staates zu religiös-weltanschaulicher Neutralität in Verbindung zu bringen. Die genannten Personen sind in jeweils unterschiedlicher Intensität auch Repräsentanten des Staates. Auf der Basis einer institutionellen Trennung von Staat und Religion verwirklicht sich das Neutralitätsprinzip in unterschiedlichen Ausprägungen.

Dieses "System kooperierender Neutralität", wie es derzeit in Europa am stärksten vertreten ist, ist daher folgendermaßen zu charakterisieren: Während in hoheitlichen Kernbereichen - wie insbesondere der Rechtsprechung - eine die religiöse Dimension "ausgrenzende" Form der Neutralität geboten ist, kommt in sozial-, leistungs- und kulturstaatlichen Bereichen eine diese Dimension "hereinnehmende" Ausprägung der Neutralität zum Tragen.

Übertragen auf unseren Kontext bedeutet dies, dass einerseits ein Verbot des islamischen Kopftuches für den Richterberuf aus verfassungs- bzw. grundrechtlicher Sicht gut argumentierbar ist.

Demgegenüber ist in Bezug auf eine Lehrerin von der grundsätzlichen Zulässigkeit des islamischen Kopftuches auszugehen, vielmehr auf ihr sonstiges Verhalten und ihre Unterrichtsgestaltung abzustellen. Dies ist auch die Basis für die von einer Lehrerin ausgehenden Vorbildwirkung. Einer allfälligen konkreten und nachhaltigen Gefährdung des Schulfriedens wäre, bezogen auf die Gegebenheiten des Einzelfalles, Rechnung zu tragen, wobei auch eine Versetzung oder Kündigung der Lehrerin in Betracht zu ziehen wäre. Die Sensibilität von Grundrechten verlangt stets eine Abwägung von kollidierenden Rechtsgütern, mag dies auch komplexe Herausforderungen für die Praxis mit sich bringen, denen sich der Staat nicht entziehen darf. Einer solchen Sichtweise entspricht im Wesentlichen auch die jüngste Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts aus 2015 (BVerfGE 138,296).

Abbild pluralistischer Gesellschaft

In diese Richtung weisen nicht zuletzt auch gesellschafts- und integrationspolitische Aspekte. Stellt doch gerade die Schule als repräsentatives Abbild der pluralistischen Gesellschaft ein prädestiniertes Forum dar, um Grundlagen für ein besseres Verständnis unterschiedlicher Kulturen, Religionen und Überzeugungen zu schaffen. Es bedarf einer steten Einübung in Toleranz, wozu nicht zuletzt die Schule einen wichtigen Beitrag leisten kann und muss.

Eine andere Position nahm der Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in einem Urteil aus 2001 (42392/98) ein, in dem er das gegenüber einer Lehrerin ausgesprochene Kopftuchverbot als konventionskonform ansah. Dieses stelle im Interesse der Neutralität des Grundschulunterrichts keinen unverhältnismäßigen Eingriff in die Religionsfreiheit der Lehrerin dar.

Dabei hat sich der Gerichtshof vor allem auch auf den Gestaltungsspielraum (margin of appreciation) berufen, der den einzelnen Staaten gerade in religionsrechtlichen Fragen in weitem Maße eingeräumt wird. Der konkrete Fall betraf den Kanton Genf, in dem ein dem französischen vergleichbares laizistisches Trennungssystem besteht, sodass dieses Urteil auch nicht undifferenziert auf Kooperationsstaaten übertragbar ist.

Mit Blick auf das Kreuz im Klassenzimmer gilt es zunächst wesentliche Unterschiede aufzuzeigen. Da der Staat nicht Grundrechtsträger (sondern Grundrechtsadressat) ist, geht es - anders als beim Tragen des islamischen Kopftuchs - hier nicht um Religionsausübung und daher auch nicht um einen allfälligen (sei es zulässigen oder unzulässigen) Eingriff in die Religionsfreiheit. Wohl kann in der Anbringung des Kreuzes eine Maßnahme positiver Religionsförderung für jene Schüler und Schülerinnen gesehen werden, für die das Kreuz als ein christliches Glaubenssymbol religiöse Bedeutung hat.

Darüber hinaus stellt das Kreuz jedoch auch ein säkulares, die abendländische Geistesgeschichte vergegenwärtigendes Symbol dar. Insgesamt betrachtet, erscheint die Anbringung des Kreuzes im Klassenzimmer durch den Staat innerhalb seines rechtspolitischen Spielraums verfassungsrechtlich vertretbar. Dies sowohl im Hinblick auf seine Neutralitätsverpflichtung gemäß dem im Bildungs-u nd Erziehungsbereich zum Tragen kommenden Konzept der "kooperierenden Neutralität", als auch aus grundrechtlicher Sicht gegenüber jenen Schülern und Schülerinnen, die das Kreuz ablehnen.

Handelt es sich dabei doch um "kein starkes äußeres Zeichen in dem Sinne, dass es einen Bekehrungseffekt oder sonstigen nachhaltigen Einfluss auf die Kinder haben könnte" - so der Verfassungsgerichtshof im Jahr 2011 (Slg 19349). Dies entspricht im Wesentlichen auch dem Kreuzurteil des EGMR im Fall Lautsi, ebenfalls aus 2011, in dem der oben erwähnten margin of appreciation-Doktrin ebenfalls ein großen Stellenwert eingeräumt wurde.

Kreuz in Schule und Gerichtssaal

Gleichzeitig gilt es festzuhalten, dass ein unter Hinweis auf ein striktes Neutralitätsgebot verhängtes Kopftuchverbot für Lehrerinnen im öffentlichen Raum Schule zwangsläufig auch die Abnahme des Schulkreuzes verlangen würde.

Das Kreuz im Gerichtssaal ist unter mehreren Aspekten anders zu beurteilen. Dieses stellt einen Verstoß gegen die in hoheitlichen Kernbereichen strikt zu handhabende Neutralitätsverpflichtung des Staates dar und wäre jedenfalls zu entfernen. Dies umso mehr, als der religiöse Eid im Strafverfahren bereits abgeschafft wurde und im Zivilverfahren weitgehend bedeutungslos geworden ist - und das Kruzifix offenbar nur mehr die Funktion hat, bei Berichten aus dem Gerichtssaal groß ins Bild genommen zu werden.

Richard Potz ist em. Univ. Prof., Brigitte Schinkele ist Hon.-Prof. für Religionsrecht an der Rechtswissenschaft lichen Fakultät der Universität Wien

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