"Laßt mir Zeit!"

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Schon Babys brauchen einesichere, liebevolle und vorallem ruhige Umgebung. Viele Eltern müssen allerdings inunserer hektischen Zeit erst lernen, mit sich und ihren Sprößlingen geduldig zu sein.

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Schon Babys brauchen einesichere, liebevolle und vorallem ruhige Umgebung. Viele Eltern müssen allerdings inunserer hektischen Zeit erst lernen, mit sich und ihren Sprößlingen geduldig zu sein.

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Wenn Eltern glauben, daß ihr Baby jetzt sitzen können soll, setzen sie es auf, stützen seinen Rücken mit einem Polster und freuen sich, wie "termingerecht" sich der Nachwuchs entwickelt. Die ungarische Kinderärztin Emmi Pikler stellte in diesem Zusammenhang bereits vor mehr als 40 Jahren die kritische Frage: "Warum lassen wir den Säugling sich nicht seinen eigenen Gesetzen gemäß entwickeln?" Die provokante Frage hat bis heute nichts an Aktualität verloren.

Daniela Pichler-Bogner, Pädagogin und Obfrau der Pikler-Hengstenberg-Gesellschaft Österreich, vermittelte kürzlich im Bildungshaus St. Virgil in Salzburg vielen interessierten Eltern, Kindergärtner(innen), Krabbelstubenbetreuer(innen) und Therapeut(innen) die Grundideen Piklers. Zudem erläuterte sie ihre eigene Umsetzung des Konzeptes in den sogenannten "Spielräumen", einer besonderen Form von Eltern-Kind-Gruppen, die sie in Wien seit vielen Jahren begleitet, folgendermaßen: Die Grundgedanken Emmi Piklers münden nicht in einer speziellen Methode sondern führen zu einem weiteren Blickwinkel, zu einer veränderten Haltung den Kindern gegenüber. Daher kommen keine zusätzlichen Aufgaben auf die Eltern zu, das Konzept überfordert die Eltern nicht - im Gegenteil, es entlastet sie. Es geht lediglich darum, daß die Mütter und Väter ihre Kinder wahr-nehmen; sie lernen allmählich, auch auf leise Zeichen zu achten und sie zu deuten. Es geht um die Qualität in der Kind-Eltern-Beziehung und nicht um Quantität.

Einfach beobachten Anfangs ist es für die Erwachsenen anstrengend, einerseits wach zu beobachten und sich andererseits zurückzunehmen. Eben nicht den Ball dem Kind in Reichweite rollen, wenn dieses soeben darauf zukrabbelt. Wer seinem Kind jedes Hindernis aus dem Weg räumt, raubt ihm die Chance, sich zu beweisen, sich zu plagen und dann das tiefe Glücksgefühl "Ich hab's geschafft" zu spüren. Das Neugeborene nimmt seine Welt auch über Berührungen wahr; wie fest, wie sicher, wie geduldig, wie ungeduldig greifen die Hände zu? Ruhige, sichere und zärtliche Hände geben dem Kind Vertrauen, es fühlt sich geborgen und sicher.

Emmi Pikler, 1902 in Wien geboren, sammelte ihre ersten Eindrücke für das stimmige Miteinander von Eltern und Kindern als Hausärztin in Budapest, wo sie zehn Jahre lang begleitend und unterstützend mit Familien arbeitete. Die Kinderärztin lehrte damals schon die Eltern, die selbstständigen Aktivitäten ihrer Kinder von Geburt an wahrzunehmen und respekt- und liebevoll darauf zu reagieren.

Respekt und Ruhe Es sei - und das war Piklers feste Überzeugung - ein Grundrecht des Menschen, über das, was mit ihm geschieht, informiert zu werden. Ärzte und Ärztinnen, die sich auf ihre Patienten einstellen, wenden dieses Prinzip selbstverständlich bei der Behandlung von Erwachsenen an. Dieses Grundrecht werde , so Pichler-Bogner, in der Betreuung von Kindern und noch stärker von Säuglingen häufig übersehen: Die Mutter hebt das Baby wortlos aus dem Bettchen und versorgt es dann auf der Wickelkommode ebenso professionell wie wortkarg. Eltern reißen das Kleinkind aus seiner "Arbeit" des Krabbelns und bescheren ihm sein tägliches Bad, zumeist ohne ihr Tun dem Kind zu erklären, mit ruhiger Stimme die einzelnen Schritte zu benennen und auf die nächste Veränderung hinzuweisen: "So, jetzt hebe ich dich vorsichtig ins Wasser, ja, da lachst du, du trittst mit deinen Beinen ins Wasser ..." In der Pflege des Säuglings mit den immer wiederkehrenden Handlungen - Baden, Eincremen, Wickeln, Füttern, Baden - liegt die Basis zum Aufbau einer tragfähigen Beziehung zwischen Eltern und Kind. "Ein Säugling muß nicht amüsiert werden!" - so das Postulat Emmi Piklers. Nicht das Angebot an Spielzeug mache es aus, sondern die Ruhe, in der das Kind mit den Gegenständen spielen kann. Es gehe nicht darum, das Neugeborene anzubeten, es gehe darum, dem Kind eine liebevoll vorbereitete Umgebung zu schenken, es in seiner Entfaltung zu respektvoll zu begleiten.

Daniela Pichler-Bogner hat über ihre Ausbildung zur Montessoripädagogin die Arbeit Emmi Piklers kennengelernt; sie hospitierte auch im "Loczy", dem Säuglingsheim in der Loczy-Straße in Budapest, das Pikler 1946 gründete und 33 Jahre lang leitete. Hier lernen interessierte Pädagoginnen und Pädagogen die Umsetzung der Piklerschen Grundgedanken kennen, sie können dort an den Kindern "studieren", wie positiv sich eine vorbereitete Umgebung auf die Kinder auswirkt, die emotional gesättigt, selbstbewußt, ausgeglichen und aktiv sind. Die Pflegerinnen im Loczy haben das Prinzip der vertrauensbildenden Säuglingspflege verinnerlicht, ebenso die Umsetzung einer Kernbeobachtung Emmi Piklers, daß "schon im Säugling ein von Natur aus unversiegbares und immer zunehmendes Interesse für die Welt und für sich selbst besteht."

Kein Perfektionismus Doch die Verinnerlichung der Ansprüche ist oftmals zäh; da bekommt der Säugling beim Wickeln einen Apfel zum Essen in die Hand gedrückt. Da schleicht sich der Erwachsene an und putzt dem Kind die Nase von hinten, ohne Ankündigung, beinahe überfallsartig ... Schnell schlittert man im Alltag in diese kleinen Respektlosigkeiten, hat zu wenig Geduld mit sich und dann auch mit dem Kind.

Kinder haben den unbändigen Wunsch zu experimentieren, Bewegungen zu wiederholen, noch einmal und immer wieder. Eltern müssen lernen, in Freundlichkeit und Geduld das Potential ihrer Kinder kennen zu lernen. Die kindliche Entwicklung basiert auf Eigeninitiative (das Kind darf es allein), Selbstvertrauen (jede überwundene Schwierigkeit ist ein "kleiner Sieg") und Ausdauer.

Eltern müssen auch üben, ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen, zu reflektieren, im Einklang mit dem eigenen Selbst zu erziehen. Kinder brauchen lebendige Eltern, die nicht im Perfektionsanspruch erstarren.

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