Leben mit der roten Nase

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Die künftigen Generationen werden lebenslistig sein und umweltkundig - oder sie werden nicht sein.

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Die künftigen Generationen werden lebenslistig sein und umweltkundig - oder sie werden nicht sein.

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Meine Freundin war als Teen ein Punk und absolvierte gleichzeitig mit gutem Erfolg die Altenpflegeschule. Jetzt verziert sie die Wagenfenster ihres Dienstautos mit Sprüchen wie: "Dies ist die Generation, die ihre Enkel schlachtet, um die Kinder zu ernähren!" oder "Rechne mit allem, auch mit etwas Gutem!" Derzeit fährt sie mit einer roten Clownnase im Gesicht durch die Stadt zu "ihren Alten", weil sie total begeistert ist von der Art und Weise, wie "Patch Adams" im Kino seine Vision in die Tat umgesetzt hat. Meine Freundin erfüllt (bis auf ihre ehrliche Sympathie für alte Menschen) nahezu alle Kriterien, die Soziologen heranziehen, um die Kinder des ausgehenden 20. Jahrhunderts zu schubladisieren. Sie verfügt über eine Bastelbiographie mit experimenteller Erfahrung in allen möglichen Lifedesigns. Sie zieht Beruf und Selbstverwirklichung dem Kinderkriegen vor, lebt unverheiratet mit einem Mann zusammen und kämpft in ihrem privaten Umfeld für die Sache der Frauen. Selbstverständlich ist sie postautoritär eingestellt und Wechselwählerin mit grundsätzlichem Mißtrauen gegenüber den Politikern und Wirtschaftsmännern. Von den Alten, sagt sie, habe sie gelernt, daß man das Leben leben muß, und zwar so intensiv wie möglich, weil das Leben gibt einem nur in glücklichen Launen eine zweite Chance ...

Sie will keine Kinder in diese Welt setzen, weil sie ihnen nicht garantieren könne, daß ihr Leben auch lebenswert sei. Sie denke besonders an die Umweltproblematik und den drohenden Zusammenbruch der Weltwirtschaft. Der wäre zwar eine Riesenchance, aber wahrscheinlich würde sie eh nur in der großen Schlacht um die letzten Ressourcen vertan ... "Die unbewältigte Gegenwart. Was werden künftige Generationen der heutigen vorwerfen?" Meine Freundin "macht" keine künftigen Generationen mehr - Rote Nase hin oder her.

Meine kleine Tochter wird im Mai ein Jahr alt. Sie gehört zu den Sonntagskindern, die in einer intakten Familie mit gesicherter Existenz und kritischer Distanz zum Zeitgeist aufwachsen. Sie wird die Chance haben, ihr Leben größtenteils nach ihren Wünschen zu gestalten. Sie wird in einer Gesellschaft aufwachsen, die (noch) genügend Potential hat, um die Zukunft zum Positiven zu wenden. Und sie wird dabei mithelfen. Wir werden ihr dabei mithelfen. Wir müssen ihr dabei mithelfen. Wir müssen ihr zeigen, was sich hinter den Fassaden verbirgt. Wer sonst? In der Schule, das wette ich, wird sie nahezu nichts hören von den großen Zusammenhängen ihrer Gegenwart. Geschichtsbücher lehren zwar über die Entstehungsgeschichte der politischen Bewegungen, aber nichts von dem Fluch, der über etablierten Systemen liegt und der die visionslos und altersstarrsinnig dahinvegetieren läßt, die nicht in ihrer "Reifezeit" durch Reform oder Gewalt modifiziert wurden. Sie wird auch deswegen ihre liebe Not mit der Kirche haben und sich in ihrem "Willen zum Sinn" im großen Bazar der spirituellen Angebote umsehen und bedienen. Sie wird zwar mit einer Überfülle an medialer Information überschüttet werden, aber sie wird in den Medien nur unter vorgehaltener Hand gesagt bekommen, daß Infotainment möglicherweise schädliche Nebenwirkungen für Individuum und Gesellschaft hat.

Sie wird viel Energie hineinstecken müssen, in die Erhaltung intakter zwischenmenschlicher Beziehungen und in all die technischen Hilfsmittel, die man heute dafür braucht. Und sie wird sich dabei ständig bewußt sein müssen, daß die Ressourcen begrenzt sind.

Sie wird letztlich einen Ort auf dieser Welt finden, der ihr attraktiv genug erscheint, um den Titel "Heimat" wirklich zu verdienen. Und sie wird einer Beschäftigung nachgehen, die ihr die wichtigsten "Überlebensmittel" kaufen kann. Und vielleicht darf es noch etwas mehr sein. Vielleicht das Versprechen, daß dieses Produkt Schluß macht mit der nachhaltigen Ausbeutung der Erde. Aber die Einhaltung solcher Versprechen wird sie nicht bezahlen können. Bezahlen werden tatsächlich ihre Kinder und Kindeskinder. Sie werden endgültig das Leben lernen müssen und nicht bloß die Schule. Sie werden lernen müssen, mit den Altlasten der Geschichte zu leben - die meisten ohne Unterricht. Sie werden lebenslistig sein und umweltkundig - oder sie werden nicht sein. Learning by doing. Sie werden ihre Visionen entwickeln und ihr eigener Patch-Adams-mit-der-roten-Nase sein, und man wird ihr Kinderlachen hören aus U-Bahnschächten, Heuhaufen und von Wolkenkratzern herab. Sie werden ihre -tümer, -ismen und -ische ablegen; sie werden sich überall zu Hause fühlen und sich auch so benehmen. Die Gebildeten unter ihnen werden über die "Festung Europa" ebenso staunen, wie wir über die Chinesische Mauer oder die Berliner oder eine im Kosovo.

Sie werden nur mehr Erdenkinder sein; Kranke und Gesunde, Alte und Junge, Hungrige und Satte, Gläubige und Ängstliche. Und ihre Gewalt wird ihre Lebenslust sein.

Die Zweite Angelika Rusch, 1967 inVorarlberg geboren, reichte ihren Beitrag unter dem Pseudonym "Chaotas Konzentrate" ein, weil sie sich von Natur aus chaotisch einschätzt, aber im Bedarfsfall sehr konzentriert sein kann. Die Dornbirnerin ist verheiratet, Mutter einer Tochter und AHS-Lehrerin für Religion und Geschichte. Ihre Liebe gehört noch der Natur, der Musik und der Literatur.

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