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Der 15-jährige Afghane Sami musste aus seiner Heimat fliehen. Da sein Asylantrag abgelehnt wurde, führt er als „subsidiär Schutzberechtigter“ ein Leben auf der Wartebank.

Raaaapiiiiid!“, stimmt Sami von der Südtribune in den Chor der Rapidfans ein. So als wäre er Grün-Weißer mit Abo und Sitzpolster. Dabei kennt Sami (Name von der Redaktion geändert) den Verein erst, seitdem er gerade das Hanappi-Stadion betreten hat. Der 15-jährige Afghane kam im Frühjahr 2007 nach Österreich.

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, kurz UMF, nennt man nüchtern die Schicksale von Kindern und Jugendlichen wie Sami. Sie mussten fliehen und sind hunderte Kilometer von ihrem Heimatland entfernt. In Österreich stellten 2007 laut Innenministerium 519 solcher unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge einen Asylantrag, 51 davon waren noch keine 14 Jahre alt. Mit 101 Asylantragstellern kommt der größte Teil davon aus Afghanistan. Die zweitgrößte Gruppe mit 66 minderjährigen Flüchtlingen ist aus Moldawien. Die Situation der jungen Asylsuchenden ist besonders prekär: Krieg, Verfolgung, Natur- und Hungerkatastrophen liegen hinter ihnen. Ihre Familien und Freunde können ihnen nicht mehr helfen, oft ging der Kontakt während der Flucht verloren. Nach Europa kommen sie meist mit Schlepperbanden.

Über seine Flucht spricht Sami nicht gern

Aufgeteilt auf sieben Bundesländer gibt es derzeit 26 Unterbringungseinrichtungen für insgesamt 440 UMF, Kärnten und das Burgenland bieten keine Plätze an. Die Institutionen werden von den Ländern über die Grundversorgung finanziert. Sie sind fast alle voll ausgelastet und brauchen zusätzliche Gelder. In den Flüchtlingsheimen und Betreuungsstätten wird auch psychologische Beratung angeboten. Doch „die Ressourcen reichen da bei weitem nicht aus“, meint Silvia Dallinger von der „Asylkoordination“ dazu. Die NGO versucht, mit dem Projekt „connecting people“ Abhilfe zu leisten, bei dem Erwachsene ehrenamtliche Patenschaften für einen unbegleiteten minderjährigen oder jungen erwachsenen Flüchtling übernehmen. 2007 wurde das Projekt mit der „SozialMarie“, dem Preis innovativer Sozialprojekte, ausgezeichnet. Die aktuelle „connecting people“-Kampagne heißt passend „Warte noch ein Weilchen …“ Die jungen Menschen sind zum Warten verurteilt, „auf einen Bescheid, auf eine Beschäftigungsbewilligung, auf den Moment, wo sie ihr Leben mit mehr Selbstbestimmung in die Hand nehmen können“, so ein Projekt-Statement. Die Teenager kämpfen mit Sprachbarrieren und zu wenig Rechtsinformation, erste Hürden sind Traumata: „Ich kann nicht alles erzählen. Es macht mich zu traurig“, meint Sami. Seine Eltern und die ältere Schwester sind gestorben. Den Kontakt zu seinem jüngeren Bruder hat er verloren, als er allein das Land verließ. Wie es dem Kleinen geht und wo er ist, weiß Sami nicht.

Auf die Flucht konnte er nur wenig mitnehmen. Und prompt das Lieblingsstück, ein Head-Tennisschläger, wurde ihm irgendwo zwischen Kabul und Wien gestohlen. Wie das geschah, darauf will er nicht eingehen. Sami wird kurz verbissen, wenn er daran zurückdenkt. Auf sich allein gestellt, muss sich der Afghane hier zurechtfinden, in einer völlig neuen Welt: andere Schrift, andere Sprache, andere Kultur. Er hat keine Verwandten oder Bekannten in Europa. Sein neues Zuhause ist eine Diakonie-Betreuungsstelle südlich von Wien, die Bewohner kommen aus der Mongolei, aus Tschetschenien oder Nigeria. Es ist eine große, laute Männer-WG. Die Jugendlichen im Heim putzen und kochen selber. Das Heim ist spartanisch eingerichtet. Möbel und Dekos schauen nach zweiter und dritter Hand aus. Das Einzige, das der Sportfan selbst aufgehängt hat, ist ein Kalender mit afghanischen Landschaftsbildern. Die pittoresken Fotos von Bergen und Feldern zeigen ein anderes Land als die Krisenregion, die man aus Medienberichten kennt. Afghanistan, das verbinden die meisten Menschen hier mit Bildern von Soldaten, Anschlägen und Drohvideos. Die Lage hat sich in den letzten Jahren verschlechtert, 2006 war das blutigste Jahr seit dem Sturz der Taliban vor mehr als sechs Jahren. Die Zahl der Flüchtlinge und der IDPs (Internally Displaced Persons), also der Binnenflüchtlinge, nahm drastisch zu. Über zwei Millionen Afghanen verließen laut UNHCR 2006 das Land als Flüchtlinge, geschätzte 130.000 suchten Zuflucht in sichereren Regionen im Inland.

Samis Blick bleibt für einige Momente an den Bildern seiner Heimat hängen, bevor er den Kalender weglegt und das Deutschübungsbuch zur Hand nimmt. Was war, das war, scheint seine Mimik zu sagen. Er ist nun hier und will das Beste daraus machen. In der Praxis heißt das, zum Deutschkurs gehen und am Abend lernen. Wenn möglich, arbeitet er, um ein bisschen mehr als das Taschengeld zu haben, das den jungen Flüchtlingen zusteht: 40 Euro im Monat bekommt Sami, und Tickets für S-Bahn und Wiener Linien. Für einen Schulbesuch ist der Afghane schon zu alt. Der Arbeitsmarkt für Asylwerber ist auf Saison- oder Erntearbeit beschränkt, dazu wird in manchen Orten Gemeindearbeit angeboten. Im letzten Herbst war Sami für die Gemeinde aktiv, einmal pro Woche fünf bis sechs Stunden lang für 5 Euro Stundenlohn. Lange Zeit wusste der Afghane nicht, wie es mit ihm weitergeht. Monate verbrachte der 15-Jährige mit Warten und Hoffen. Und mit der Angst, wieder in seine Heimat zu müssen. Hier sei er genauso allein wie dort, wo niemand mehr auf ihn wartet. Doch hier sei er wenigstens sicher. Ein halbes Jahr nach seiner Ankunft bekam er den Bescheid: Sami ist „subsidiär schutzberechtigt“. Das bedeutet, sein Asylantrag ist abgelehnt worden, er darf aber für ein Jahr, bis zum heurigen Winter, in Österreich bleiben, da die momentane Lage in Afghanistan sein Leben gefährden könnte. Nach Ablauf dieser temporären Aufenthaltsberechtigung wird die Situation neu bewertet. Wird sein Heimatland stabiler, muss er wieder zurück. Ob und wann das sein wird, kann man nicht vorhersehen.

Wer ist Flüchtling, wenn nicht er?

Asylexperten kritisieren, dass gerade bei minderjährigen Flüchtlingen die Zeitspanne durch den subsidiären Schutzstatus oft überbrückt wird, bis sie volljährig sind. Dann sind sie leichter abzuschieben. Auch die Definition von „Flüchtling“, die auf die Genfer Flüchtlingskonvention zurückgeht, scheint vielen heute nicht mehr zeitgemäß. Wer ist anno 2008 ein Flüchtling, wenn nicht Sami?

Und doch wird sein Asylantrag abgelehnt. Zukunftsplanung ist für ihn ein Fremdwort, er lebt im Hier und Jetzt. Abwechslung in den Alltag der Burschen der Betreuungsstelle bringt eine Einladung des Fußballklub SK Rapid zu einem Heimspiel der Grün-Weißen. Während des Matchs tratscht Sami mit der jungen Wienerin am Nebensitz. Integration eben. Nach einem Jahr unterhält er sich mit den Einheimischen fast nur auf Deutsch. Ein weiteres Mitglied in der grün-weißen Familie? Wer weiß, wo der Teenager in zwei Jahren lebt. Sami kann nur den Augenblick genießen. Bevor er das Hanappistadion verlässt, erklärt er den 13.000 Zusehern nochmals lautstark, wie der Sieger heißt: „Raaaapiiiiiid!“

Der Autor ist freier Journalist in Wien.

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