Lebensqualität als Maß aller Dinge

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Herr sein über Leben und Tod: Geht ein Wunschtraum in Erfüllung, wenn Leben in der Retorte entsteht und über die Gene gesteuert werden kann?

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Herr sein über Leben und Tod: Geht ein Wunschtraum in Erfüllung, wenn Leben in der Retorte entsteht und über die Gene gesteuert werden kann?

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Einen entscheidenden Durchbruch für ein neues Denken brachte der weltweite Siegeszug der Pille: Eltern bekamen ein Instrument zur Hand, das ihnen erlaubt festzulegen, ob und wann sie Kinder haben wollten. Ein Tor war geöffnet: Man verfügte in gewisser Weise über die Entstehung des Lebens.

Es folgte die Legalisierung der Abtreibung, die man auch als letzte Absicherung für das alsbald etablierte Recht, über den Lebensbeginn zu verfügen, ansehen kann, als Korrektur von Verhütungspannen. Man konnte aber auch jene Kinder eliminieren, an deren zukünftiger Lebensqualität man zweifelte: behinderte, ungewollte sowie materiell oder sozial belastende Kinder, von denen man annahm, sie würden nicht geliebt und umsorgt werden.

In allen Industriestaaten lief nunmehr eine neue medizinische Sparte an: die Tötung von Millionen ungeborener Kinder. Bei dieser Tätigkeit fiel eine Fülle von Material an, dessen wissenschaftliche Untersuchung wesentliche Einblicke in die Entwicklung des ungeborenen Menschen eröffnete. Und dieses Wissen wurde genutzt: 1978 erblickte Louise Brown das Licht der Welt, sie war das erste in der Retorte gezeugte Kind. Einer ihrer "Hersteller", der Arzt Steptoe, war Leiter einer der größten englischen Abtreibungskliniken.

Der nächste Schritt war quasi vorprogrammiert: Die Menschenproduktion wurde - wie andere Produktionsprozesse auch - optimiert. Das bedeutete: Möglichst hohe Erfolgsgarantie (daher Einpflanzung einer größeren Zahl befruchteter Eizellen und im Falle, daß zu viele überleben, Eliminierung der überzähligen) und Qualitätskontrolle (Tötung der genetisch nicht einwandfreien).

Wo Pannen passieren, werden die Produzenten auf Haftung geklagt. So bekam eine weiße US-Bürgerin Schadenersatz für die Geburt eines gesunden Babys zugesprochen, dessen einziger Mangel seine Eigenschaft, ein Mischling zu sein, war. Man hatte irrtümlich Spermien eines schwarzen Samenspenders verwendet.

Kinder werden aber auch auf andere Weise nunmehr zum Schaden: 1984 sprach der deutsche Bundesgerichtshof einer Mutter Schadenersatz zu, weil ihr Kind nach einer fehlgeschlagenen Abtreibung zur Welt kam. Ähnliches geschah, als ein Paar ein Kind nach einer "fehlerhaften Sterilisation" bekam. Gesunde Kinder als Schadensfälle!

Hier wird eine fundamentale Veränderung im Denken offenkundig. Es zählt nicht mehr die Person, es entscheidet vielmehr der Lebensentwurf der Entscheidungsträger.

Manche "Philosophen" drücken das deutlich aus, etwa der Australier Peter Singer: "Ich habe dargestellt, daß Babys überhaupt kein inhärentes Lebensrecht haben, ganz gleich, ob sie behindert sind oder nicht ... Wo eine Gesellschaft genügend Ressourcen hat, ist es vernünftig, ein solches Leben weiterhin aufrechtzuerhalten. Aber bei einigen Gesellschaften - ich denke hier an Entwicklungsländer - ist es so, daß, wenn sie ihr Geld dafür verwenden, es ihnen an anderer Stelle fehlt ... In diesem Falle würde ich sagen, daß es zulässig ist, daß diese Gesellschaft es einfach für zu teuer hält, das Leben auch solcher Neugeborener zu erhalten, die bei adäquater Pflege ein erfülltes Leben führen könnten."

Die Akzentverschiebung ist bedeutsam: Es geht nicht mehr um die Person selbst, sondern um das lebenswerte Leben. Und selbst wenn dieses lebenswert erscheinen mag, muß es sich vor den Ansprüchen seiner Umwelt rechtfertigen: das ungeborene Kind gegenüber den Ansprüchen seiner Eltern und Großeltern, der behinderte sowie der alte und pflegebedürftige Mensch gegenüber den von ihm verursachten Kosten für das Sozialsystem.

Damit wird ein absolut schützenswertes Gut, nämlich das Leben, gegen ein relatives, die Lebensqualität, eingetauscht. Plötzlich ist bei der Beurteilung des Lebensschutzes ein Kalkül erlaubt, ja gefordert. Dessen Kriterien lassen sich jedoch nicht scharf festlegen. Sie hängen von subjektiven Einschätzungen ab, von dem, was nützlich und sozialverträglich ist: Die Entscheidung über Leben und Tod gerät in die Hand des Menschen.

Damit wird alles möglich, denn Nützlichkeiten lassen sich für jede zielgerichtete Handlung angeben: die Grenze des Todes wird im Interesse von Organverpflanzungen vorverlegt (Seite 14), die freiwillige Euthanasie artet aus "Mitleid" zur unfreiwilligen aus (siehe Holland, Seite 16), abscheuliche Experimente mit Ungeborenen werden im Dienst der Wissenschaft durchgeführt (Herzen aus Föten entfernt, um ihr weiteres Schlagen zu beobachten, Köpfe abgeschnitten, am "Leben" erhalten und untersucht ...), Teile von Ungeborenen zur Heilung aussichtslos Kranker eingesetzt (zehn Embryos für einen Parkinson-Patienten) ... Wie gesagt, für jede dieser Handlungen läßt sich auch etwas ins Treffen führen. Das ist kein Kunststück. Auch die Naziärzte hatten Argumente für ihre Versuche in den Konzentrationslagern.

Gerade das Dritte Reich hat aber gezeigt, daß ein System, das Leben verrechenbar macht, in eine Sackgasse der Unmenschlichkeit führt. Vor derselben Gefahr stehen wir heute. Aus ihr finden wir nur durch einen tiefen geistigen Wandel heraus, der das Leben jedes Menschen nach abendländischer Tradition zum absoluten Tabu erhebt. Das Leben ist unantastbar, unbedingt wertvoll unabhängig von der Lebensqualität, die es zu haben scheint.

Eine persönliche Erfahrung in jüngster Vergangenheit hat mir das deutlich vor Augen geführt: Ein guter Freund hatte stets damit argumentiert, ein Leben lohne sich nur so lange, als man es zu genießen vermöge. Sei das nicht mehr möglich, solle man es freiwillig beenden. Er wußte auch schon, wie er dies tun würde.

Nun: Seit einem Jahr leidet er an den Folgen einer furchtbaren Krebserkrankung: Operation, Chemotherapien, Bestrahlungen, unsagbare Schmerzen ... Ein Leben scheinbar ohne Lebensqualität - das er nicht weggeworfen hat. Es ist nämlich ein Leben voller persönlicher Reifung, trotz allem auch mit vielen frohen Stunden, tiefen, freundschaftlichen Begegnungen, der Erfahrung von Zuneigung in der Familie, ein Zeugnis unwahrscheinlichen Mutes für seine Umgebung ...

An ihm erfahre ich, daß menschliche Freiheit nicht darin besteht, sich selbst zu beseitigen, sondern unabhängig von allen Widrigkeiten sein Leben anzunehmen. Denn es ist ein Geschenk Gottes, der Herr über Leben und Tod ist.

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