Lernen aus der Katastrophe

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Lernen aus Fehlern ist gerade nach tragischen Fällen von Kindesmisshandlungen besonders schwierig. Oftmals bleibt alles beim Alten. Es gibt aber auch mutige Neuanfänge.

Es war ein mutiger Schritt nach einer Katastrophe. Im Jahr 2006 wurde in Bremen der zweijährige Kevin nach schweren Misshandlungen tot in einem Kühlschrank aufgefunden. Wie meist nach derartig tragischen Fällen hagelte es nach der Veröffentlichung des Falles schwere Vorwürfe gegen Behörden wie der Jugendwohlfahrt. Diese hatte in dem Fall sogar die Amtsvormundschaft über das Kind. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des dortigen Jugendamts ließen aber die Defensive und das Verstecken in ihren Büros hinter sich und versuchten sich neu aufzustellen. Eine Maßnahme: Die Sozialarbeiterinnen ließen sich in einer Zeitung abbilden mit der Botschaft: Wir sind eure Sozialarbeiterinnen. - Also wir sind für euch da, wenn eure Familie Probleme hat.

Es sei ein Beispiel für Lernen aus Fehlern, wie der Berliner Experte für Sozialarbeit Reinhart Wolff bei der Tagung "Wer steht uns bei?" im Bildungshaus St. Virgil in Salzburg Ende November erklärte (siehe Interview rechts). Die Offensive zielte darauf ab, das Image der Fachleute im Sozialen Dienst zu verändern - weg vom Image als Wächter über das Wohl der Kinder hin zu Fachleuten, die Familien auch präventiv bei Problemen helfen und erwünscht sind.

Imagewandel im Jugendamt

Nachdenkprozesse über neue und professionellere Arbeitsformen, also modernes Qualitätsmanagement in der Sozialen Arbeit, sei zurzeit hoch im Kurs, wie Experten auf der Fachtagung in St. Virgil betonen. Zunächst würden aber oftmals andere Fragen im Vordergrund stehen, wie Christine Gerber, Mitarbeiterin im Zentrum Frühe Hilfen im Deutschen Jugendinstitut, erklärt: Sozialarbeiterinnen würden fragen, wie sie sich vor strafrechtlicher Verfolgung absichern könnten. Auch der Ruf nach mehr Checklisten, an denen man sich festhalten kann, würde lauter. Im Deutschen Jugendinstitut wollte man aber eine Alternative dazu anbieten. Das Projekt: "Aus Fehlern lernen - Qualitätsmanagement im Kinderschutz". Es wurde im vergangenen August nach zweijähriger Laufzeit abgeschlossen. 42 Kommunen aus zwölf Bundesländern waren beteiligt und haben ihre Arbeit einer selbstkritischen Prüfung unterzogen. Bei diesen Reflexionen waren nicht nur alle möglichen Teile im Netzwerk Kinderschutz dabei wie Jugendwohlfahrt, Gesundheitsberufe, Schulen, Gerichte, Polizei, sondern auch betroffene Eltern, die Klienten der Behörden waren oder sind und gefragt wurden, was sie sich an Hilfe erwartet und wie sie die Arbeit der Sozialarbeiterinnen erlebt hätten.

Der Prozess führte laut Verantwortlicher zur besseren Kooperation aller Beteiligter und zu einem Imagewandel. Es wurden etwa Rückmelde- und Beschwerdestellen im Kinderschutz installiert, und somit ein Feedback betroffener Familien zu bekommen. Den Grundgedanken des Projektes brachte Gerber bei der Tagung so auf den Punkt: "Kinderschutzarbeit wird sich niemals vollends standardisieren lassen. Was wir brauchen, sind qualifizierte Fachkräfte, die Verantwortung tragen können und wollen."

Doch so einfach ist das Lernen aus Fehlern nicht. Vielen Beteiligten sei es schon schwer gefallen, das Wort "Fehler" in den Mund zu nehmen, zu eng sei es verknüpft mit persönlicher Schuld und strafrechtlicher Verfolgung, so Gerber: Im Projekt sei man aber von einem "systemischen Fehlerverständnis" ausgegangen: Es ist demnach selten ein einzelner Fehler einer einzelnen Fachkraft, sondern meist eine Kette von Fehlern, die sich im System befinden und daher zu Tragödien führen können, obwohl man meint, in diesem System alles richtig gemacht zu haben. Hier müsse angesetzt werden.

In St. Virgil stellten sich Fachleute aus dem Bereich Kinderschutz daher dieser Reflexion und Selbstkritik. Fehler, Probleme oder Verbesserungsbedarf im Team, in der Institution oder im Helfersystem wurden auf den Tisch gelegt. Ein vorherrschendes Thema waren Vorurteile und negative Klischees, die sich hartnäckig zwischen Helfer und Klienten halten. Aber gerade im Imagewandel der Sozialarbeiterinnen liege der Schlüssel zu einer Verbesserung, betont Wolff.

Alles beim Alten hierzulande?

Ebenso ein dominierendes Problem: der chronische Ressourcenmangel. So berichten manche Praktikerinnen und Praktiker, dass in ihren Einrichtungen in jüngster Zeit kaum Ressourcen ausgebaut worden seien, etwa Personal. Dabei war auch in Österreich eine heftige Diskussion über Verbesserungen im Kinderschutz im Gang, als vor etwas mehr als drei Jahren der 17-monatige Luca an den Folgen schwerer sexueller Misshandlung verstarb. Der Lebensgefährte der Mutter wurde als Täter beschuldigt und 2008 zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Die Mutter zu einem Jahr unbedingter Freiheitsstrafe. Ihr wurde "fahrlässige Körperverletzung wegen Unterlassung" vorgeworfen. Die erstinstanzlich ebenso verurteilte, mit dem Fall betraute Sozialarbeiterin wurde aber in zweiter Instanz freigesprochen.

Das groß angekündigte neue Jugendwohlfahrtsgesetz wurde bis heute nicht umgesetzt. Die zuständigen Länder fürchteten zu hohe Kosten. Experten hatten zuvor in Arbeitsgruppen Vorschläge für bundesweit einheitliche Qualitätsstandards im Kinderschutz erarbeitet. In Österreich ist die Jugendwohlfahrt in allen Bundesländern unterschiedlich organisiert, was vielfach kritisiert wird.

Eine Reaktion auf den tragischen Fall Luca war eine erhöhte Vorsicht von allen Beteiligten im Kinderschutz. Das bestätigt abseits der Tagung Reinhold Kerbl, Leiter der Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde im Krankenhaus Leoben-Eisenerz und Mitglied des Präsidiums der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (siehe Artikel unten). "Wir sind eine Spur vorsichtiger geworden. Wobei fraglich ist, ob das gut oder schlecht ist. Gut ist es, wenn weitere Fälle wie jener von Luca verhindert werden können. Schlecht jedoch, wenn wir vielleicht überreagieren und Vorfälle anzeigen, die wir vor drei Jahren nicht angezeigt hätten." Sein Fachkollege Wolfgang Novak, Kinderarzt, Oberarzt im SMZ-Ost Wien und Leiter der dortigen Kinderschutzgruppe, meint hingegen, dass sich sehr wohl etwas verändert habe. Es gebe einige Initiativen, um Netzwerke zu verbessern, etwa zwischen Medizin und Polizei oder mit den Jugendämtern (siehe unten). Ob das alles in die richtige Richtung gehe, wisse man aber erst nachher - wie immer.

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