Lernen kennt keine Altersgrenze

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Auch immer mehr Pensionisten wollen lebenslang lernen. Sie drängen vermehrt in die Hörsäle der Universitäten und machen noch mit 70 ihren Doktor.

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Auch immer mehr Pensionisten wollen lebenslang lernen. Sie drängen vermehrt in die Hörsäle der Universitäten und machen noch mit 70 ihren Doktor.

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Daß der Anteil der älteren und alten Menschen an der österreichischen Bevölkerung stetig zunimmt, ist bekannt. Nicht zuletzt im Wahlkampf haben Politiker aller Parteien die Bedeutung der Senioren erkannt und gezielt um sie geworben. Auch an den Universitäten, lange die Hochburgen junger Generationen, sind Semester für Semester immer mehr ältere Studierende präsent. Durch die Verkürzung der Lebensarbeitsdauer und dem vermehrten Wohlstand erreichen Menschen den dritten Lebensabschnitt oft im vollen Besitz ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten. Frei von beruflichen Verpflichtungen suchen sie nach neuen Lebenszielen: einem Universitätsabschluß zum Beispiel.

Statistisch gesehen sind die Seniorenstudenten überwiegend weiblich und über 40 Jahre alt. Sie sind vor allem in den Vorlesungen von Theologie, Philosophie und Geschichte anzutreffen und gehören zu den eifrigsten Studierenden. Waren es Anfang der achtziger Jahre noch wenige Tausend sind es 20 Jahre später bereits an die 15.000 Männer und Frauen, die trotz - oder eigentlich wegen - ihres fortgeschrittenen Alters den Weg zu den Universitäten gefunden haben.

Die Institutionalisierung des Seniorenstudiums geht auf eine Empfehlung der Rektorenkonferenz im Jahre 1978 zurück. Neben den allgemein geltenden Bedingungen für ein Studium wurden damals neue Möglichkeiten geschaffen, um älteren Menschen gegebenenfalls auch unabhängig vom Vorliegen der Reifeprüfung den Zugang zur universitären Bildung zu erleichtern. Universitätsprofessor Wolf Rauch, Rektor an der Karl Franzens Universität Graz, sagt dazu: "Wir, die Universitäten, können Gott sei Dank so offen sein, weil uns die Gesellschaft, das heißt der Steuerzahler, ermöglicht, uns rein auf die Wissensvermittlung zu konzentrieren. In der öffentlichen Diskussion wird immer stärker die Frage der Studienzeiten angesprochen. Natürlich tragen Seniorenstudenten zu einer Verlängerung der durchschnittlichen Studiendauer bei. Uns geht es aber um die Qualität der Bildung. Wir wollen nicht um jedem Preis Studierende durchschleusen. Das ist der Punkt, warum im Gesetz bei Universitäten immer von Bildung und nie von Ausbildung gesprochen wird." Er betont, wie wichtig es sei, sich von dem Gedanken zu verabschieden, daß man einmal lernt und davon sein Leben lang zehrt. Im Gegenteil, der Lernprozeß kennt keine Altersgrenzen.

Verkäuferin mit drei abgeschlossenen Studien Die Motivation der Seniorenstudenten und -studentinnen ist unterschiedlich. Einige wollen das in der Jugend abgebrochene Studium abschließen oder einfach ihrem Bedürfnis nach Bildung nachgehen.

Ingeborg Kappel zum Beispiel war in ihrer Jugend Verkäuferin; mittlerweile hat sie drei Studien abgeschlossen. Das Studium ist für sie zum Lebensinhalt geworden. "Es ist wie eine Sucht. Ich habe einmal angefangen und kann mir nicht vorstellen, daß ich damit aufhöre. Ich habe Freude daran: ich lerne etwas dazu, kommuniziere mit Menschen ..." erklärt sie. Als nächstes peilt sie einen akademischen Grad in Medizinsoziologie an. Andere Senioren dagegen legen wenig Wert auf das eigentliche Studium. Für sie steht die gesellschaftliche Komponente im Vordergrund: Sie suchen Aufgaben und Kontakte und finden beides, indem sie sich in den begleitenden Aktivitäten zur Förderung der Seniorenstudenten engagieren.

An der Universität Graz beispielsweise ist die Gruppe der älteren Studierenden rund um Rosemarie Kurz besonders aktiv. Bereits Mitte der achtziger Jahre hat Kurz begonnen, sich der Anliegen der Seniorenstudenten anzunehmen. "Die erste Versammlung im Mai 1986 war turbulent - hitzige Wortgefechte der Befürworter und Gegner", erzählt sie und erinnert sich an den ersten Auftritt des Seniorenreferates in der Öffentlichkeit beim Weltfestes der Grazer Hochschülerschaft. "Wir fütterten unsere jungen Kollegen und Kolleginnen mit Radieschen und Karotten und machten auf uns ältere Studierende in Gesprächen aufmerksam", erzählt sie.

Mittlerweile hat Kurz die Gesellschaft zur Förderung der Alterswissenschaften und des Seniorenstudiums (GEFAS Steiermark) gegründet und zahlreiche Initiativen ins Leben gerufen. "Wohnen gegen Hilfe" beispielsweise ermöglicht es Studierenden, preisgünstig bei älteren Menschen zu wohnen. Nach dem Prinzip für ein Quadratmeter Wohnfläche eine Stunde Hilfe im Monat tauschen junge Menschen ihre Zeit gegen eine Wohnmöglichkeit ein, die Senioren dagegen geben ein Stück Wohnfläche ab und erhalten Hilfe und Gesellschaft.

Ein anderes Projekt ist "Storyline": Es richtet sich an Schulklassen und zielt darauf ab, die Begegnung der Generationen zu fördern, indem Senioren und Jugendliche gemeinsam die Schulbank drücken. Die Vielfalt der von der GEFAS initiierten Projekte ist groß und an neuen wird ständig gearbeitet. Zur Zeit wird dem Aufbau einer Web-Seite im Internet oberste Priorität gegeben, um Senioren aktiv in das Internet-System einzubinden.

Konflikte zwischen den Studierenden unterschiedlicher Generationen sind selten. Die Fächer, die für die Seniorenstudenten attraktiv sind, leiden ohnehin nicht an Überfüllung; bei den geisteswissenschaftlichen Studienrichtungen werden gelegentlich sogar Studierende gebraucht, um bestimmte Mindestgrößen von Gruppen zu erreichen.

Die Älteren können belastend werden Bei Kunstgeschichte dagegen ist das Problem akut: "Da sind 50 Prozent der Studenten und Studentinnen Ältere. Die haben ihre ganze Ausrüstung und besetzen immer die vorderen Bänke - da sie Zeit haben, sich rechtzeitig in den Hörsaal zu begeben." erklärt Kurz. Dazu kommen jene Situationen "wenn die Älteren ihr gesamtes Erfahrungswissen innerhalb eines Seminars los werden wollen, dann sind sie belastend für die Jungen, weil einfach der Prozeß ziemlich lang dauert". Doch, so Kurz, "auf der anderen Seite lernen die Jungen dabei auch was".

Das Seniorenstudium hat auch eine internationale Facette. Zu erwähnen sind die Organisationen EURAG (Bund der älteren Generationen Europas) und EFOS (Vereinigung der Seniorenstudenten Europas). Erstere setzt sich mit der Situation älterer Menschen auseinander, wobei sie unter anderem mit den Vereinten Nationen sowie mit der Weltgesundheitsorganisation zusammenarbeitet. Das Bildungsprogramm der GEFAS Steiermark "Richtungswechsel und Neuorientierung von/für Frauen im dritten und vierten Lebensalter - Changing Track at Third Age" beispielsweise wurde auch mit Mitteln der EURAG finanziert.

Die EFOS dagegen konzentriert sich allein auf die Anliegen der studierenden älteren Generationen. Sie zielt darauf ab, durch Erfahrungsaustausch das Seniorenstudium in allen europäischen Ländern zu fördern und zu institutionalisieren. Somit sollen auch Brücken zwischen den zwei bestehenden Systemen des Seniorenstudiums geschlagen werden: Einerseits dem Integrationsmodell, wie in Österreich etwa, bei dem alle Studenten unabhängig vom Alter dieselben Vorlesungen besuchen; andererseits dem Segregationsmodell, bei dem wie beispielsweise in Italien und Frankreich die ältere Generation getrennt von den Jungen unterrichtet wird.

Bedenkt man, daß Anfang des nächsten Jahrtausends gute 30 Prozent der Menschen in Österreich über 60 Jahre alt sein werden, dann sind Studierende im höheren Alter nicht mehr von den Universitäten wegzudenken. Zur Lebensqualität gehört auch der Zugang zu Bildungsmöglichkeiten und eine wachsende Zahl älterer Menschen entdeckt die Herausforderungen und Freuden eines Studiums.

Wohin soll die Entwicklung des Seniorenstudiums gehen? Hier zeigt sich Kurz kritisch: "Die meisten Senioren sind einfach zu egozentrisch unterwegs. Ich habe daher den großen Wunsch, daß bei ihnen auch die gesellschaftliche Verantwortung stärker zu Tage kommt." Am brennendsten seien zum Beispiel die Probleme zwischen den Generationen: "Wir Ältere könnten sehr wohl schauen, wie es in Zukunft mit den Arbeitsplätzen für die Jungen weitergeht, und wir sollten uns dafür auch stark machen. Von der Universität sind doch immer neue Bestrebungen ausgegangen ..."

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