Lotsen zwischen den Fakten und Fiktion

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Philip Meyer fordert gegen die Krise der Zeitungen einen professionelleren Journalismus denn je. Nur durch die Verbindung aus wissenschaftlicher Faktentreue und kunstvoller Erzählung kann der Journalismus der zunehmenden Fragmentierung unserer Gesellschaft kraftvoll entgegentreten.

Vorherzusagen, wie neue Technologien in Zukunft genutzt werden, gleicht zum Zeitpunkt ihrer Einführung oft noch dem Lesen im Kaffeesatz. Manche Vorhersagen bewahrheiten sich später, andere nicht. So kursierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschiedene Prognosen zur Zukunft der damals neuen Technologie des Telefons. Es bewahrheitete sich zum Beispiel nach 1900 die Annahme, dass Telefone das Management politischer Kampagnen revolutionieren würden. Die Erwartung, Telefone könnten Krankheiten übertragen stellte sich jedoch als falsch heraus. Am Ende wurde aus dem Telefon eine Kommunikationstechnologie. Es war aber auch zeitweise eine Nutzung als Medientechnologie zur Übertragung von Konzerten angedacht. Diese Rolle übernahm später jedoch das Radio.

Neue Medientechnologien produzieren schneller Daten, als sie das Verstehen und die Strukturierung von Daten nachliefern können. Mit jedem Technologiesprung strömen mehr Informationen auf das Publikum ein. Deren Nutzung und sinnvollen Einsatz müssen das Publikum und die Medienmacher erst erlernen. So war es nicht nur beim Internet, sondern bereits bei der Einführung von Zeitung oder TV. Hier setzt die Leistung von gutem Journalismus an, denn "unprozessierte Daten sind nur Lärm“, findet Professor Phil Meyer. Derartige ungeordnete Informationsmassen gefährden sogar den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Denn der einzelne Bürger verliert den Überblick und auf zahlreichen Themen- und Interessenfeldern bilden sich unzählige Experten- und Interessengruppen.

Sortieren, Einordnen, Kontextualisieren

Dafür zu sorgen, dass Informationen geordnet werden, damit sie in Zukunft einen fruchtbaren Nutzen für die Gesellschaft bringen können, ist Aufgabe des Journalismus. Anderenfalls wird diese Arbeit von einzelnen Interessengruppen übernommen und Demokratien zerfallen in Lobbygruppen, so befürchtet Phil Meyer.

In seiner öffentlichen Vorlesung zur Zukunft des Journalismus, am 3. Oktober in Wien, plädierte der Pulitzer-Preis-Träger Phil Meyer für einen Journalismus, der die ständig zunehmende Menge an Fakten für die Öffentlichkeit wieder auf ein verständliches Maß herunter bricht. "Wir brauchen Struktur, um eine Wahrheit hinter den Fakten sehen zu können“, so Meyer. Er fragt sich in diesem Sinne: "Was tun Technologien mit dem Journalismus?“ Den Journalismus sieht er dabei heute eher als einen Prozess denn als ein Produkt an und er erläutert dies im Folgenden am Beispiel der Printzeitungen, in denen er selbst lange Jahre tätig war.

Früher musste Journalismus demnach dafür sorgen, dass der Fluss an Informationen nie abreist, das stellen nun die neuen Online-Technologien ohnehin sicher. Heute ist es umso wichtiger, dass Journalisten Informationen sortieren, einordnen und in die relevanten Kontexte stellen.

In dieser letztgenannten Funktion stritten sich im 20. Jahrhundert zwei rivalisierende Strömungen um die Vorherrschaft auf dem journalistischen Feld. Der "narrative Journalismus“ hat dabei durch plastische Darstellungen gesellschaftliche Verhältnisse dem Leser nachvollziehbar gemacht und emotional nahegebracht, es dabei aber nicht immer ganz so streng genommen mit der Faktenlage. Der faktenbasierte Präzisionsjournalismus, dem sich auch Meyer zurechnete, hat sich zwar durch empirisch belegbare Aussagen und hohe Quellentreue ausgezeichnet, bei vielen Ereignissen aber nicht die Konsequenzen und die Bedeutung von Ereignissen oder gesellschaftlichen Zuständen für das Leben der Betroffenen vermitteln können. Der Präzisionsjournalismus hat so die unbestreitbaren Fakten eben gerade nicht verarbeitbarer gemacht und ausreichend in Kontexte stellen können, die dem Leser vertraut sind.

In den 1970er-Jahren, schienen die beiden Schulen noch unvereinbar. "Die Präzision strebt hin zur Wissenschaft und die Narration strebt in Richtung Kunst“, lautete damals die weit verbreitete Ansicht, so Meyer.

Er und seine Kollegen erhielten 1968 den Pulitzer-Preis für ein Paradebeispiel des Präzisionsjournalismus. Sie berichteten über die Unruhen in Detroit. Dabei suchten sie nach sozialwissenschaftlichen Theorien, die die Geschehnisse erklären könnten, bildeten Hypothesen, überprüften diese anhand von Befragungen und werteten die Ergebnisse durch die damals innovative Nutzung von Computern aus.

Subjektive Nacherzählungen über Drogen- und Prostitutionsmilieus als Journalismus zu bezeichnen, wie es einige seiner Kollegen damals taten, wäre Meyer schwer gefallen.

Heute sieht er aber großes Potenzial im ausgewogenen Verhältnis von Fakt und Fiktion. "Fiktion erzeugt ein Gefühl für die Welt, aber der Leser muss wissen, wann es Fiktion ist, die er liest“, so sagt er. Beides zu leisten, ist viel Arbeit und erfordert noch professionellere, intelligentere und besser ausgebildete Journalisten.

In Zeiten der zunehmenden Übernahme der Nachrichtenberichterstattung durch Onlinecommunitys und damit oft durch "Journalismuslaien“ fordert Meyer eine stärkere Professionalisierung des Journalismus denn je.

Journalismus muss die Welt erklären

Die hohe Zahl der Medienangebote, aber auch die Spezialisierung der Formate und Darstellungsformen macht das Entstehen einer geschlossenen Wirklichkeit für die ganze Bevölkerung immer unwahrscheinlicher. So entsteht die Gefahr einer zunehmenden Fragmentierung der Gesellschaft und ihres Auseinanderfallens in die singulären Interessen einer Vielzahl von Gruppen. Im zunehmenden Einfluss der konservativen Tea Party in den USA und in den entsprechenden linken Gegenbewegungen sieht Meyer diese Entwicklung bestätigt.

Wenn der Journalismus die Welt nicht mehr erklärt, dann tun das Einzelne im Sinne ihres Eigeninteresses, so befürchtet er. Um die zunehmende Komplexität dieser Welt aber nachvollziehbar aufzuarbeiten, braucht es immer mehr narratives Geschick.

Die Fragmentierung zu akzeptieren, wäre riskant für eine Demokratie. Die Politik muss sich dann zunehmend mit Einzelinteressen und -problemen beschäftigen, ein Regieren im großen Maßstab wird so immer schwieriger. "Man kann eine Demokratie aber nicht auf der Basis von Volksabstimmungen betreiben“, so Meyer, "wir alle wollen niedrige Steuern und hohe staatliche Sozialstandards, der Ausgleich ist unpopulär.“

In der demokratischen Entscheidungsfindung zeigt sich, wie schmal der Grat ist, auf dem die Informationsgesellschaft balanciert. Information soll Gesellschaften helfen, sich demokratisch zu organisieren, und sie möglichst nicht gefährden.

Genau dies kann ein Journalismus verhindern, der sich auf Fakten und einen hohen inhaltlichen Standard stützt, zugleich aber narrativ Weltgeschehen in eine Form bringt, die den Bürgern Grundsatzentscheidungen ermöglicht und vereinfacht.

Daher plädiert Meyer zum Ende seines Vortrages an die versammelten Journalisten im Saal der Österreichischen Akademie der Wissenschaften: "Ihre Aufgabe ist es, in Zukunft die Gesellschaft durch verantwortungsvolle Strukturierung der Informationsflut zusammenzuhalten.“

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