"Lotte, ich habe dich verlassen"

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Margit Schreiners "Buch der Enttäuschungen" erzählt den Abschied vom Leben, die Mühen des Alterns und den eigenen Tod.

Abgesehen von Hörspielarbeiten hat Margit Schreiner bislang zwei Prosabände und fünf Romane vorgelegt. Das "Kritische Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur" kennt Margit Schreiner (noch) nicht, dafür findet sich ein ausführlicher Beitrag über Robert Schneider - auch einst ehrwürdige Instanzen der Kritik haben sich schon lange der Logik des Medien-Hypes gebeugt, und frauenfreundlich waren sie noch nie.

Mit dem 1997 erschienenen Roman "Nackte Väter" eröffnete Margit Schreiner - wohl ohne es damals zu wissen - eine Art Tetralogie der Abschiede. Geht es hier um das Leben und vor allem den langsamen Tod des alzheim erkranken Vaters, folgt 2001 mit "Haus Frauen Sex" ein fulminanter Trennungsbericht in Form einer raffiniert gebauten Rollenprosa aus der Perspektive des verständnislos zurückgebliebenen Ehepartners. 2003 nahm die Autorin mit "Heißt Lieben" Abschied von der eigenen Mutter, in Form einer fulminanten Abrechnung mit den Müttern schlechthin, mit den strukturellen wie emotionalen Fallstricken, die das Mutter-Tochter-Verhältnis unaufhebbar belasten.

"Die Zeit kriecht über meinen Rücken. Plötzlich bin ich neunundvierzig Jahre alt ... Dabei war ich gestern erst zehn Jahre alt." So endet "Heißt lieben", und hier schließt Schreiners neuer Roman "Buch der Enttäuschungen" erzähltechnisch an, der den mählichen Abschied vom eigenen Leben, die Mühen des Alterns und schließlich den eigenen Tod erzählt. In abwechselnden Erzählsträngen lässt Schreiner eine in zwei Lebensalter aufgespaltene Ich-Figur zwischen den Generationen und Lebensphasen changieren, Enttäuschung sind in ihnen allen vorprogrammiert. Während sich der Lebensradius der alten Frau mehr und mehr reduziert, bis sie nur mehr in den Erinnerungen lebt, erlebt das Kind, das die Frau einmal war, seine eigene Geburt und Kindheit, die Entzauberung der Welt in der Pubertät. Im Rückblick vermischen sich der sterbenden Frau Geburt und Tod, die Rollen der Mutter und der Tochter.

Eltern-Kind-Achse

Die Erinnerung, mit der das Buch einsetzt, gilt Tante Henriette, die kurz bevor sie geistig verwirrt in einem Pflegeheim starb, gesagt haben soll: "Wer hätte gedacht, dass unsere Eltern uns einmal so im Stich lassen würden." Ein scheinbar absurder Satz, der die 78-jährige Erzählerin, die gerade an einer Gehirnblutung gestorben ist, bis zuletzt nicht mehr loslässt. Ein Satz auch, der - mit der Kernachse des Eltern-KindVerhältnisses - die fatalen zwischenmenschlichen Verstrickungen auf den Punkt bringt, mit denen sich Schreiners Tetralogie so beklemmend unaufgeregt auseinandersetzt. Sparsam und punktgenau ist auch die Sprache dieses Lebens- und Sterbensberichtes, den eine Tote spricht. Sie legt Rechenschaft ab über ihr Leben, und sie tut das mit einer Distanziertheit und Gedankenschärfe, die den Lebenden den Atem nimmt.

Stufe um Stufe zeigt sie die Zwänge und Fallen auf, die biologischen wie gesellschaftlichen Weichen, die immer schon gestellt sind, wenn das Einzelleben gelebt sein will. "Wir denken, größenwahnsinnig, wie wir sind, wir erfänden uns selbst und die ganze Welt, aber wir wiederholen nur endlos dieselben Muster".

Die Alte - der Säugling

Am Beeindruckendsten sind vielleicht jene Passagen, in denen die Stimme der Erzählerin das noch oder schon wieder sprachlose Ich interpretieren muss. Die Perspektive des Säuglings, dem zunächst einfach alles lästig und anstrengend ist, der allmählich seine Umwelt entdeckt und so ganz anders interpretiert als die Erwachsenen rundum. Auf der anderen Seite die Perspektive der alten Frau, die sich von der Außenwelt immer mehr zurückzieht in ihren Kopf, auch um mit der "gesteigerten Kombinationsfähigkeit" des Alters das Leben zu bilanzieren.

Immer wieder werden die Phasen des Alterns parallel geschnitten mit den analogen Schwierigkeiten des Säuglings. Was jener mühsam erlernte - essen, gehen, sprechen - verlernt die alte Frau langsam und nicht weniger mühsam. "Lotte, ich habe dich verlassen" ist einer der letzten Sätze im (irdischen) Leben der Erzählerin - er gilt der Lieblingspuppe ihrer Kindheit.

Altern ist in der jüngsten Literatur ein großes Thema, hier scheinen sich die demografischen Entwicklungen bzw. deren mediale Aufbereitung sehr direkt niederzuschlagen. Doch Schreiners protokollartiger Bericht über die Phänomene des Alterns, die Verzichte und Selbstreduktionen, die der Körper nach und nach abverlangt, die allmählich immer lockerer werdenden Fäden, die das Leben im Diesseits verankert halten - all das ist in dieser Dichte und auch mit diesem unerbittlichen, aber gleichzeitig humorvollen Ton einzigartig.

"Nicht einmal die gröbsten Dummheiten meiner Mutter hatte ich vermieden", heißt es zu Beginn des Romans. Und das ist auch eine Art Resümee zu Schreiners bisherigem Schreibprojekt: Eine literarische Bestandsaufnahme zum Leben der Frauen, die um Gerechtigkeit und Verständnis für die inkompatiblen Positionen aller Beteiligten ringt und dabei Plakativität wie laute Töne vermeidet.

Buch der Enttäuschungen

Von Margit Schreiner

Verlag Schöffling, Frankfurt 2005

174 Seiten, geb., e 19,50

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