"Man kann so etwas nicht verschweigen"

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Hanna Fiedlers Ehemann hat frontotemporale Demenz, eine Erkrankung, die seine Persönlichkeit dramatisch verändert hat. Weil sie selbst krank wurde, musste er ins Heim, doch hier fehlt es an Personal und Expertise. Eine Geschichte über Pflege - und Überforderung.

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Hanna Fiedlers Ehemann hat frontotemporale Demenz, eine Erkrankung, die seine Persönlichkeit dramatisch verändert hat. Weil sie selbst krank wurde, musste er ins Heim, doch hier fehlt es an Personal und Expertise. Eine Geschichte über Pflege - und Überforderung.

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Franz Fiedler sitzt allein im Raucherzimmer - wie meistens, wenn seine Frau Hanna ihn besuchen kommt. Sein Blick ist starr auf das Fenster gerichtet, der Aschenbecher vor ihm voll mit Zigarettenstummeln der Marke "Smart"."Hallo Schatzi, ich liebe dich", sagt er zu seiner Frau, als sie ihn mit einem Kuss begrüßt und ihm seine Lieblingszuckerl bringt. Es scheint ihm gerade gut zu gehen, doch schon kurz darauf wechselt seine Stimmung. "Ich habe Hunger, geh raus, hol was zu essen", befiehlt der 70-Jährige. Als man ihm erklärt, dass er gerade erst gegessen habe, schlägt er mit der Faust auf den Tisch. Der Lärm scheint ihn zu überraschen. "Es hat getuscht", sagt er verblüfft. Erst, als ihm seine Frau über den Handrücken streicht, beruhigt er sich wieder. "Ich habe meine Frau lieb", sagt er versonnen. "Ich bin der Kaiser von Österreich." Hanna Fiedler liebt ihren Mann. Aber sein Verhalten führt sie und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hier, in einem privaten Wiener Pflegeheim, täglich an ihre Grenzen. Es ist nicht nur seine Aggressivität, die sein Umfeld herausfordert, es ist auch seine Distanzlosigkeit und Übergriffigkeit gegenüber Frauen. "Ja, er grapscht", sagt Hanna Fiedler. "Ich habe das auch von vornherein offen angesprochen, denn solche Dinge kann man nicht verschweigen."

"Er grapscht - aber nicht aus Boshaftigkeit"

Manche der Pflegerinnen würden seine Übergriffe mit einem Lächeln quittieren - frei nach dem Motto "Gib eine Ruh' jetzt"; andere würden damit drohen, den Raum zu verlassen. Statt auf solche (verständlichen) Zurechtweisungen sein Verhalten zu ändern, reagiere ihr Mann häufig nur mit Aggression. "Er macht das aber nicht aus Boshaftigkeit", betont Hanna Fiedler, selbst ausgebildete Lern- und Gedächtnistrainerin sowie diplomierte Lebens- und Sozialberaterin. "Mein Mann ist einfach krank."

Drei Jahre ist es her, dass bei ihm die Diagnose "frontotemporale Demenz" gestellt wurde. Wegen eines Schlaganfalls war er ins Krankenhaus gekommen, wo man seine Frau schon bei ihrem ersten Besuch mit den Worten "Ist der immer so?" empfing. Nein, er war nicht immer so gewesen -aber gerade in den letzten Monaten vor dem Schlaganfall hatte sich sein Verhalten derart zugespitzt, dass Hanna Fiedler ihn schon fast verlassen wollte. "Ich hatte das Gefühl, ich muss gehen, weil ich seinen Umgang mit Menschen nicht mehr aushalte", erinnert sich die 57-Jährige. Oder sollte sie sich in jenem Menschen, mit dem sie über ein Vierteljahrhundert lang verheiratet gewesen war, gar von Anfang an getäuscht haben?

Ihre Selbstzweifel wuchsen -bis sie am gerontopsychiatrischen Zentrum in Wien endlich die wahren Hintergründe für die Wesensänderung erfuhr: Auslöser war eine eher seltenere Form von Demenz, bei der zuerst die Nervenzellen im Stirn- und Schläfenbereich des Gehirns (Fronto-Temporal-Lappen) abgebaut werden. Anders als bei der häufigeren Alzheimer-Krankheit, die vor allem hochaltrige Menschen betrifft, tritt die frontotemporale Demenz (oder "Morbus Pick") oft schon zwischen 45 bis 55 Jahren auf; und weil in der betroffenen Hirnregion unter anderem das Sozialverhalten gesteuert wird, kommt es zu teils dramatischen Veränderungen der Persönlichkeit.

Für die Angehörigen eine ungeheure Belastung. "Viele schämen sich für den Erkrankten oder gehen gar nicht mehr nach draußen", erzählt Hanna Fiedler. "Aber Schweigen geht nicht, weil diese Krankheit gibt es und die Betroffenen werden immer mehr." Um für Notfälle gerüstet zu sein, hat sie sich auf Anraten der Caritas bald ein kleines Kärtchen zugelegt. "Mein Angehöriger ist an Demenz erkrankt, was sein manchmal seltsames Benehmen und Verhalten erklärt", ist darauf zu lesen. Wann immer ihr Mann etwas Unmögliches tat, klärte sie das verstörte Visavis auf diese Weise auf: den Optiker, den er beschimpfte; die Frau, die er begrapschte; oder den Nachbarn im Schanigarten, dessen Torte er probierte.

Nicht nur Fremde, auch Verwandte und Freunde reagierten auf solche Aktionen oft verstört. "Viele kommen mit dieser Situation nicht zurecht", erzählt Hanna Fiedler. Sie selbst hat dank ihrer Ausbildung langsam gelernt, sich so gut wie möglich abzugrenzen. Wann immer kurzzeitig Entlastung nötig war, hat sie auf der Plattform www.stundenweisebetreut.at nach Angeboten gesucht; und wann immer der innere Druck zu groß wurde, hat sie ihre Sorgen bei der kostenlosen psychosoziale Angehörigenberatung der Wiener Caritas formulieren können (vgl. www.caritas-pflege.at). Auch finanzielle Sorgen waren manchmal dabei: Seit sie ihre Praxis als selbständige Beraterin und Trainerin schließen musste, um ihren Mann zu pflegen, lebt sie von der Mindestsicherung. "Mein großes Glück ist, dass ich in einer günstigen Gemeindewohnung wohne", sagt Fiedler. Glücklich war sie auch, als ihr Mann schlussendlich einen Platz in einem Tageszentrum bekam - und das monatliche Pflegegeld von 677 Euro für die Pflegestufe 4 einigermaßen reichte. "Dort hat er sich sehr wohl gefühlt", erinnert sich Hanna Fiedler. Alles schien damals irgendwie schaffbar zu sein. Bis ihr Körper plötzlich streikte.

Eine dringende Magenoperation war fällig, und von einem Tag auf den anderen brauchte sie einen Heimplatz für ihren Mann. Anfang Februar kam er schließlich hierher - in dieses schöne Haus mit Einzelzimmern und etwas Grün rundherum. Und doch sollte es nicht passen. "Es ist nichts Schlimmes passiert", meint seine Frau rückblickend - nichts also, was mit den jüngst publik gewordenen Missständen in anderen Heimen vergleichbar wäre. "Aber sie sind eben nicht auf Demenzerkrankte eingestellt. Und auf 'Frontos' schon gar nicht."

"So kann man das nicht machen"

Erst vor wenigen Tagen sei die Lage wieder eskaliert. Ihr Mann, ein starker Raucher, habe sich in seinem Zimmer eine Zigarette angezündet, obwohl dort Rauchen streng verboten sei. Als Reaktion habe eine Pflegerin wortlos alle Zigaretten aus dem Nachtkästchen genommen und sei damit aus dem Zimmer gestürmt, woraufhin er mit der Faust auf die Tür geschlagen habe und tobend auf den Gang gelaufen sei. "So kann man das nicht machen", sagt Hanna Fiedler. "Er hat vermutlich gar nicht mehr gewusst, wo das Raucherzimmer ist!" Hätte man ihn an der Hand genommen und ihm den Weg gewiesen, der Eklat wäre vermutlich ausgeblieben. Doch für einen solchen "validierenden" Zugang, der die Wahrnehmung von desorientierten Menschen anerkennt und dadurch Spannungen reduziert, braucht es nicht nur eine entsprechende Ausbildung, sondern auch genügend Personal -und Zeit. Beides Mangelware in vielen Heimen.

Umso mehr fordert Hanna Fiedler, den Pflegeberuf, der "unglaublich wichtig, aber auch unglaublich schwer" sei, endlich mit den nötigen Ressourcen auszustatten und entsprechend wertzuschätzen. Schließlich werde sich die Zahl der Demenzbetroffenen in Österreich bis 2050 auf 250.000 verdoppeln - und mit ihr auch die Zahl der pflegenden Angehörigen. Um sie zu unterstützen, hat Fiedler die Plattform www.undwer-hilft-uns.at initiiert. Was sie sich konkret wünschen würde? "Statt nur 24-Stunden-Pflegerinnen zu fördern, sollten auch Angehörige einen Teil dieser Pflege übernehmen können und entsprechend bezahlt und versichert werden", fordert sie. Auch (kostenlose) Beratungs- und Coachingstunden wären dringend nötig.

Und was sagt sie zum Projekt "Selbständig Leben Daheim", bei dem Langzeitarbeitslose von Caritas, Rotem Kreuz und Co. zu Alltagsbegleitern ausgebildet und im Rahmen der "Aktion 20.000" (siehe Kasten) finanziert werden sollen? "Das ist keine schlechte Idee", lautet Fiedlers Antwort, "nur muss man genau definieren, was diese Leute tun dürfen und was nicht." Die Begleitung ihres Mannes traue sie jedenfalls keinem zu, der nur eine fünfwöchige Ausbildung durchlaufen habe. Aber auch sie selbst fühlt sich angesichts schwindender Kräfte überfordert. Nun sucht sie ein Heim mit Validations-Kompetenz, das mit der Krankheit ihres Mannes besser umzugehen weiß als das derzeitige. Erst unlängst, so Fiedler, hätten zwei Pfleger sie im Raucherzimmer gefragt, worin sich die Demenzform ihres Mannes eigentlich von einem "typischen Alzheimer" unterscheide. "Vier Monate nach seiner Ankunft hat mich das doch äußerst seltsam berührt."

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