Martini - © Foto: Privat

Marcello Martini: Mit 14 Jahren im KZ

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Ein Ort feiert jetzt das Leben des Marcello Martini: Vom Todesmarsch zur Versöhnung.

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Ein Ort feiert jetzt das Leben des Marcello Martini: Vom Todesmarsch zur Versöhnung.

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Dies ist das bittere und doch wunderbare Märchen von einem Menschen, der es geschafft hat, Hass, Gewalt und Rache auszulöschen – erzählt in fünf Akten und einem aktuellen Nachsatz. Der Schauplatz: Der kleine Ort Hinterbrühl liegt südlich von Wien – in unmittelbarer Nähe von Mödling und an der Straße zum Stift Heiligenkreuz. Schon immer war er ein gesuchter Urlaubsort von großen Komponisten, Malern und Entdeckern. Berühmt wurde er auch durch das SOS-Kinderdorf und durch die Seegrotte, einst ein Gipsbergwerk, heute ein Touristenmagnet – mit Europas größtem unterirdischen See.

1. Akt: Wie alles begann

Im Jahr 1986 besuchte eine Gymnasialklasse aus dem nahen Baden die Grotte und erfuhr zwei besonders spannende Geschichten: Dass im einstigen Gipsbergwerk die Transport-Pferde geblendet wurden, um in dunklen Gängen nicht zu scheuen. Und dass hier im Finale des 2. Weltkriegs eine unterirdische Flugzeugfabrik der Nazis war (eine „Wunderwaffe“, die aber nicht mehr zum Einsatz kam). Groß war da das Mitleid der Jugendlichen mit den Pferden – nur ein Bub fragte: „Und wer hat hier unten die Flugzeuge bauen müssen?“ Der Führer darauf: „Das weiß ich nicht!“ Da hatte der begleitende Professor eine Idee: „Wir besuchen in kleinen Gruppen die alten Leute im Ort und erkundigen uns, was damals war“. „Oral history“, von Zeitzeugen erzählte Geschichte, heißen solche Projekte.

Diese Gedenkstätte ist wie ein Stein der Erinnerung, den wir in den Fluss des Vergessens werfen!

Christoph Schönborn

Langsam und anfangs mühsam hob sich ein bisher dichter Schleier: Da waren – von Herbst 1944 bis April 1945 – Zwangsarbeiter aus halb Europa in Tag- und Nachtschichten und unter unmenschlichen Lebensbedingungen in den Baracken eines Konzentrationslagers direkt über der Grotte zusammengepfercht. Ein KZ mit Wachtürmen, elektrisch geladenem Stacheldraht und mörderischen KZ-Wächtern. Eine verdrängte, vergessene Kriegsgeschichte.

2. Akt: Ein Ort des Gedenkens

Der alte Ortspfarrer, einst selbst NS-Verfolgter, mobilisierte seine Gemeinde; erzwang – zunächst gegen lokalen Widerstand – eine Erinnerungstafel in der Grotte. Und je furchtbarer die Details waren, die ans Licht kamen, desto entschlossener war er, ein Stück KZ-Areal – eben als Baugrund angeboten – zu kaufen und eine Gedenkstätte zu errichten. Im Spätherbst 1989 war es so weit. Und prompt kamen bei Nacht die KZ-Leugner, die „Alles Lüge“ und „Juda verrecke“ auf die Gedenksteine sprayten. Kardinal Schönborn kam und erinnerte an die Wichtigkeit, „Steine der Erinnerung in den Fluss des Vergessens zu werfen“. Dreimal im Jahr – am Karfreitag, zu Allerheiligen und Silvester – treffen sich seither Menschen der Umgebung hier zum stillen Gedenken.

3. Akt: Vom Quälen und Morden

Immer mehr alte Akten und Augenzeugenberichte wurden gefunden, auch Zwangsarbeiter von einst besuchten bald die Stätte ihrer Leiden. Die Grausamkeiten von damals wurden immer offenkundiger: Hier waren Häftlinge gequält, von Hunden zerfleischt, von Schergen erschossen, erschlagen worden. Und als sich im Frühjahr 1945 die Sowjettruppen näherten und der 207-km-Todesmarsch der KZ-Insassen zu Fuß nach Mauthausen begann, schlurften viele Hunderte bleiche Gestalten in Holzpantoffeln an der Ortskirche vorbei, wo eben der Ostergottesdienst zu Ende ging.

An die 150 Erschöpfte wurden unterwegs erschossen. Und 51 gehunfähige Gefangene waren schon in der Nacht zuvor mit Benzinspritzen ins Herz ermordet oder erdrosselt worden. Sie starben unter unvorstellbaren Qualen.

4. Akt: Marcello Martini

Eines Tages stand ein Italiener auf der Gedenkstätte: Marcello Martini. Der neue Ortspfarrer sprach italienisch – und so enthüllte sich bald ein Drama von unglaublicher Bösartigkeit: Marcello war erst 14 (!) Jahre alt gewesen, als Faschisten seinen Vater, einen Widerstandskämpfer, holten. Als er ihnen entwischte, brachten sie „stellvertretend“ den Buben fort – nach Mauthausen, Wiener Neustadt und Hinterbrühl. Dank seiner Jugend und enormem Glück überlebte Marcello alle Bestialität, kehrte 1945 als Skelett nachhause, maturierte, promovierte – und wurde ein berühmter Flugzeugbauer.

Über das „Damals“ schwieg er sogar in der eigenen Familie – bis ihn seine Schwester zum Besuch seiner Leidensstätten überreden konnte. Hier löste sich die Zunge und er begann, über seine KZ-Zeit zu sprechen. Vor allem vor italienischen Jugendlichen berichtete er nun von den Erlebnissen seiner Jugend. Und erst 75-jährig schrieb er aus der Erinnerung und mit der Genauigkeit des Technikers die Geschehnisse jener dunklen Zeit nieder. Nach Hinterbrühl kam er nun immer öfter, fand hier Menschen, Freunde, die ihm zuhörten – und nannte die Gedenkstätte auf dem KZ-Areal bald sein „Sacrario“, Heiligtum. Niemals, so sagte er, hätte er noch zu Lebzeiten erwartet, dass tatsächlich „Steine der Erinnerung“ die Zeit überdauern würden. Im August 2019 ist Marcello Martini, inzwischen 90-jährig, als letzter KZ-Häftling von Hinterbrühl in seiner Heimat gestorben.

5. Akt: Verzeihen und Versöhnen

Monate später hat sich seine Familie gemeldet: Der Verstorbene habe den Wunsch hinterlassen, dass zumindest ein Teil seiner Asche als letzte Geste des Verzeihens und der Versöhnung auf der KZ-Gedenkstätte in Hinterbrühl beigesetzt würde. Und tatsächlich: In diesem Spätsommer kam das, was von diesem großen Menschen sterblich war, aus Italien – und ist inzwischen in einer schlichten Feier unter einem Gedenkstein in die Erde versenkt worden.

Zugleich hat der örtliche Gemeinderat einstimmig beschlossen, Martini posthum zum Ehrenbürger zu ernennen. Und der italienischkundige Altpfarrer hat die berührende Lebensgeschichte seines Freundes Marcello in einem kleinen Büchlein („Mit 14 Jahren im KZ – Das Leben des Marcello Martini: Vom Todesmarsch zur Versöhnung“) zusammengefasst. Damit jetzt, wo auch die letzten Augenzeugen der NS-Tragödie von uns Abschied nehmen, etwas von jener bitteren Wahrheit in Erinnerung bleibt, was der Mensch dem Mitmenschen antun kann – in diesem Fall einem Buben von 14 Jahren! Gemäß dem Wort: „Vergiss keine deiner Taten. Vergiss nicht die Geschichte. Sie soll deine Wurzel bleiben!“

Nachsatz:

An diesem Freitag, 23. Oktober, ist es so weit: Auf der KZ-Gedenkstätte Hinterbrühl (Johannesstraße 16), genau über der Stelle, wo seine Asche ruht, wird um 18 Uhr die Gedenktafel für Marcello Martini in einer kurzen Feier enthüllt. Anschließend findet ein kurzer Schweigemarsch der Teilnehmer zur Pfarrkirche des Ortes statt, wo um 19 Uhr der Festakt zur Verleihung der Ehrenbürgerschaft in Anwesenheit der 90-jährigen Ehefrau von Martini sowie seiner Tochter und Enkelin stattfinden wird. Der Abend endet mit einem Gespräch des Buchautors P. Jakob Mitterhöfer über den Menschen Marcello Martini sowie der Präsentation seines Buches.

Wegen der coronabedingten Besucher-Beschränkungen müssen sich die Teilnehmer an der Veranstaltung unbedingt vorweg unter Angabe ihrer Kontaktdaten beim Gemeindeamt Hinterbrühl (02236-2624912 oder buergerservice@hinterbruehl.com) anmelden.

Das Leben des Marcello Martini - © Foto: Kral-Verlag
© Foto: Kral-Verlag
Buch

Mit 14 Jahren im KZ

Das Leben des Marcello Martini: Vom Todesmarsch zur Versöhnung
Von P. Jakob Mitterhöfer
SVD 96 S., geb., € 19,50 portofrei über den Kral-Verlag (office@kral-moedling.at) erhältlich.

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