Medizin mit Fingerspitzengefühl

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Nicht nur bei Behörden, auch im Gesundheitswesen stoßen Migrantinnen und Migranten oft auf Hindernisse. In einer "Transkulturellen Ambulanz" sollen sprachliche und kulturelle Unterschiede überbrückt und die medizinische Betreuung von Zuwandererfamilien verbessert werden.

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Nicht nur bei Behörden, auch im Gesundheitswesen stoßen Migrantinnen und Migranten oft auf Hindernisse. In einer "Transkulturellen Ambulanz" sollen sprachliche und kulturelle Unterschiede überbrückt und die medizinische Betreuung von Zuwandererfamilien verbessert werden.

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Ein im deutschsprachigem Raum einzigartiges Projekt läuft derzeit an der Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters im Wiener AKH. Ausgehend von der Beobachtung, dass Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien bei der Versorgung mit psychiatrischer und psychosozialer Betreuung schlechter gestellt sind als österreichische Kinder, wurde 1993 eine "Transkulturellen Ambulanz - Immigrantenambulanz" ins Leben gerufen.

Dabei wird eine Spezialbetreuung durch sprach- und kulturkompetente Ärzte angeboten - und damit eine echte "Marktlücke" geschlossen: Immerhin 18 Prozent der Wiener Bevölkerung sind keine österreichischen Staatsbürger (davon stammen 40 Prozent aus dem ehemaligen Jugoslawien und 20 Prozent aus der Türkei). Die (mangelnde) medizinische Betreuung ausländischer Patienten stellt daher ein nicht zu unterschätzendes Problem dar.

Kinder und Jugendliche aus Zuwandererfamilien sind besonders gefährdet: Sie müssen oft Verantwortung und Pflichten übernehmen, die normalerweise Aufgabe der Eltern sind, etwa Amtswege erledigen oder Übersetzen, stehen nicht selten zwischen österreichischen Freunden und ihrer Familie und haben mit schulischen Problemen zu kämpfen - neben Belastungsreaktionen, Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsrückständen einige der Gründe, warum Kinder aus Migrantenfamilien die transkulturelle Ambulanz aufsuchen. Bei bosnisch- und serbokroatisch-sprachigen Kindern waren weiters Kriegserlebnisse die Ursache für posttraumatische Belastungsreaktionen; bei den türkisch-sprachigen Kindern die Erdbebenerfahrungen in der Türkei sowie fremdenfeindliche Angriffe.

Angst vor Diagnose "Wir haben gesehen, dass bei der Arbeit mit Migranten und deren Kinder immer wieder Schwierigkeiten aufgetreten sind und wollten die Gründen dafür erforschen", erklärt die Kinderpsychiaterin und Initiatorin des Projektes, Türkan Akkaya. "Diese Familien suchen bei Problemen erst sehr spät unsere Klinik auf. Die Vorstellung, in die Klinik zu müssen, ist bei Migranten oft mit sehr viel Angst verbunden. Sie kommen meist nicht von sich aus, sondern auf Grund einer Überweisung und dann nur, um diese Überweisung zu erfüllen."

Migrantenfamilien befürchten, durch eine Diagnose benachteiligt und abgestempelt zu werden, für sich selbst und für ihre Kinder Zukunftsperspektiven zu verbauen oder die Aufenthaltsbewilligung zu verlieren, falls sie eine psychiatrische Behandlung brauchen. Auch wissen viele Familien nicht - da sie meist aus ländlichen Gebieten kommen und ein niedriges Ausbildungsniveau aufweisen -, wohin sie sich mit Problemen wenden können. Sogar die Angst davor, als "Versuchskaninchen" missbraucht zu werden, wurde geäußert. Die Furcht vor einer falschen Diagnose auf Grund von Sprachproblemen und kulturspezifischen Unterschieden stand ebenfalls an oberster Stelle. Tatsächlich komme es im psychiatrischen Bereich des öfteren zu Missverständnissen sprachlicher und kultureller Natur, berichtet die Ärztin. Die Erfahrung mit der transkulturellen Ambulanz am Wiener AKH zeigt demgegenüber klar, dass die Patientenzahl von Zuwandererfamilien steigt, wenn sie von einer Person aus dem gleichen Kulturkreis betreut werden. "Die Familien erfuhren durch Mundpropaganda von diesem Angebot," weiß Akkaya, die selbst türkisch, kurdisch und englisch spricht. Daneben wurden auch in Migrantenorganisationen Informationsabende für Familien veranstaltet.

Erste Ergebnisse des Pilotprojektes wurden nun in der Studie "Schwierigkeiten bei der Betreuung von Migrantenkindern und -jugendlichen" zusammengefasst. Patienten aus 22 Ländern wurden untersucht und betreut. "Wir versuchten auch Dolmetscher zu organisieren - und das war nicht immer leicht", berichtet Akkaya. Trotz aller Ängste und Hemmungen zeigen Immigrantenfamilien eine hohe Bereitschaft, mit dem Arzt zusammenzuarbeiten, wenn das betreuende Fachpersonal sprach- und kulturkompetent ist. Entsprechendes Betreuungspersonal reduziert das Phänomen des "doctor-shoppings", des häufigen Arztwechsels - und damit Kosten. Auch die Befolgung der ärztlichen Anweisung (Compliance) steigt.

Klinischer Dolmetsch Weiters haben die Mitarbeiter der Ambulanz die Erfahrung gemacht, dass der Kontakt von Migranten zu psychosozialen Betreuungseinrichtungen die Integration dieser Gruppe in anderen Bereichen erleichtern kann. "Eine kultur- und sprachsensible Betreuung bringt sowohl für Patienten als auch Betreuer eine Erleichterung und hilft, Konflikte zu vermeiden", zieht Akkaya eine positive Bilanz des Projektes.

Indes sorgt ein Team von acht Dolmetschern in sieben Wiener Krankenhäusern für interkulturelle Verständigung. Die muttersprachigen Vermittler sollen nicht-deutschsprachigen Patienten - die in manchen Spitälern bis zu 60 Prozent ausmachen können - zur Seite stehen. Vor allem in den Abteilungen Gynäkologie, Geburtshilfe und Kinderheilkunde ist ihre Übersetzungskunst gefragt. Was 1989 im Rahmen des WHO-Projektes "Wien - Gesunde Stadt" als Modellversuch startete, erwies sich als voller Erfolg. Im Jänner ist der erste Pilotkurs zur speziellen Ausbildung für Krankenhausdolmetscher erfolgreich abgeschlossen worden. 16 Absolventen sollen künftig dazu beitragen, dass die Kommunikation im Spitalsalltag reibungsloser funktioniert und sowohl auf Seiten der Patienten als auch des Personals zu mehr Zufriedenheit führt. Denn oft liegt es nur an "Kleinigkeiten", die zu Missverständnissen führen können: So gilt es etwa in der Türkei als beleidigend, einem Menschen zu sagen, er sei todkrank. Eine solche Mitteilung wird als unverschämt gewertet. Daher glauben türkische Patienten immer wieder, der Arzt verheimliche ihnen etwas, nur weil es sich nicht gehört, die Wahrheit zu sagen. Ihnen zu erklären, dass österreichische Ärzte zu Offenheit und Wahrheit verpflichtet sind, stärkt bereits das gegenseitige Vertrauen.

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