"Meine Mama ist ein Techno-Freak"

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Ingrid Kromer, Wissenschaftlerin am Österreichischen Institut für Jugendforschung inWien, über das exzessiveLebensgefühl der jungen Leute.

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Ingrid Kromer, Wissenschaftlerin am Österreichischen Institut für Jugendforschung inWien, über das exzessiveLebensgefühl der jungen Leute.

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die furche: Laute Musik, schriller Körperkult, extreme Sportarten - die jungen Leute heute sind so exzessiv, heißt es oft. Wird man ihnen mit solchen Aussagen gerecht?

Ingrid Kromer: Also bitte, die 68er waren weit exzessiver und extremer! Denken Sie beispielsweise an die Sexualmoral, die von dieser Generation völlig umgedreht wurde! Die heutigen Jungen drehen nichts um. Im Gegenteil: sie werden immer angepasster.

Es stimmt ja nicht einmal die Aussage, dass sie immer früher sexuelle Beziehungen eingehen. Es gibt bereits wieder eine große Gruppe von 20-Jährigen, die noch keinen Geschlechtsverkehr hatte. Das war vor 20, 30 Jahren nicht so. Ich würde eher sagen, dass die heutigen jungen Leute "expressiv" sind. Das heißt, sie leben ganz ausdrücklich ihren eigenen Lebensstil.

Das hat nicht immer mit Abgrenzung zu tun. Man muss hier unterscheiden: die etwa 13- bis 18-Jährigen brauchen die Abgrenzung gegenüber den Erwachsenen, weil sie sich finden und selbstständig werden wollen. Das wird ihnen aber immer schwerer gemacht. Die Erwachsenen nehmen den Jungen alles, was sie zur Abgrenzung brauchen. Heute wollen alle jung sein und daher verschwimmen die Grenzen. Ich habe zum Beispiel eine Bekannte, die ist ein Heavy-metal-Freak. Ihr Sohn hört hingegen nur mehr klassische Musik ...

Oder: Es ist für eine 16-Jährige wirklich nicht lustig, wenn die Mama sich anzieht wie sie selbst, gefärbte Haare hat, zum Techno-Rave geht oder sich ein Piercing machen lässt. Gerade Musik ist etwas, worin sich ein Lebensgefühl ausdrückt. Und die Jungen wollen das Lebensgefühl der Alten gerade nicht haben. Meine Tochter zum Beispiel hört sich jetzt schon x-mal ein Lied an, das ungefähr den Inhalt hat: "Ich will euer Leben nicht". Gemeint ist unser Leben, das der Erwachsenen.

die furche: Junge Erwachsene brauchen diese Abgrenzung nicht mehr?

Kromer: Nein. Die wollen nur ihr Lebensgefühl ausleben. Die leben nur mehr das, was ihnen wichtig ist. Ob das jemanden gefällt oder nicht, ob das jemand gut findet oder nicht, ist ihnen dabei relativ egal.

die furche: Wie stark ist heute der Wunsch, erwachsen zu werden?

Kromer: Nicht sehr. An den Erwachsenen selbst sehen sie ja, dass das nicht gerade erstrebenswert ist: den täglichen Trott in der Arbeitswelt und ähnliches. Das war in den siebziger Jahren noch ganz anders. Da hatte man als Junger noch Visionen, wollte der Welt einen Hax'n ausreißen. Erwachsen werden bedeutete damals Macht, Mitbestimmung, Ansehen, Anerkennung, Geld ... Aber heute? Heute spüren die Jungen den totalen Leistungs- und Konkurrenzdruck. Sie sehen, wie schwierig der Arbeitsmarkt geworden ist. Gehen Sie heute in eine Mittelschule! Da gibt es keine großen beruflichen Träume mehr. Da wird fast nur mehr gefragt: Wo habe ich denn überhaupt eine Chance? Viele Junge sind Realos geworden, zuversichtliche Pragmatiker, aber ohne Illusionen. Sie sehen außerdem, dass überall dort, wo sie sind, auch die Erwachsenen auftauchen. Warum? Weil die alle auch jung sein wollen.

die furche: Werden die Erwachsenen überhaupt noch als Vorbilder gesehen?

Kromer: Das Vertrauen in die Erwachsenenwelt hat stark nachgelassen. Früher herrschte die Einstellung vor, dass die Erwachsenen mächtig und wissend seien und die anstehenden Probleme schon lösen werden. Heute sehen die Jungen, dass es zwar eine Menge Probleme gibt, die Natur betreffend oder den Arbeitsmarkt - aber Lösungen sind keine in Sicht.

die furche: Was haben Junge für Zukunftsaussichten?

Kromer: Schauen Sie sich die Alterspyramide an. Die Älteren werden immer mehr. Die Jungen haben heute nicht unbedingt das Gefühl: "Man will mich". Weder am Arbeitsmarkt noch sonstwo. Sie sind inzwischen eine marginalisierte Gruppe geworden. Auch die derzeitige Bildungspolitik zeigt auf, dass in "die Jugend" und damit in die Zukunft kaum investiert wird.

die furche: Ist deshalb das "Auffallen wollen" so wichtig geworden? Und hat das überhaupt noch damit zu tun, die Älteren dabei auch schockieren zu wollen?

Kromer: Auffallen-wollen ist auch ein Ausdruck der Suche nach Individualität und des Wunsches, zur Kenntnis genommen zu werden. Wir leben nun einmal im Zeitalter der Körperkultur und der Äußerlichkeiten. Es gibt immer wieder Trendsetter, die sich was Neues ausdenken. Manches davon wird dann zum mainstream, wie die Tatoos und das Piercing, und manches nicht. Es geht ums Auffallen-wollen, nicht ums Schockieren. Man will sich selbst gefallen. Aber selbst das wurde ihnen weggenommen. Längst tragen auch die 40-Jährigen Piercings und Tatoos, um zu zeigen, dass sie auch noch jung sind. Oder erinnern Sie sich an die Love Parade im vergangenen Sommer. Da gingen doch hauptsächlich die gestylten 30-Jährigen hin, nicht die jungen Techno-Freaks.

die furche: Der Wunsch nach ökonomischer Unabhängigkeit scheint bei jungen Leuten hingegen ja nicht besonders ausgeprägt zu sein?

Kromer: Das stimmt. Es gibt immer früher persönliche Freiheiten für die Jungen, aber gleichzeitig bleiben sie immer länger in ökonomischer Abhängigkeit. Das heißt aber nicht, dass man deshalb zu Hause auch miteinander lebt, sondern oft nur nebeneinander. Denn auch hier gibt es inzwischen fixe Vereinbarungen über die finanzielle Unterstützung. Sie bekommen Geld und können damit machen, was sie wollen.

die furche: Es heißt immer, wir leben im Zeitalter der Individualisierung. Kann man noch Individualist sein?

Kromer: Der Individualismus ist sehr stark. Sie glauben vielleicht, die Jungen schauen alle gleich aus. Nehmen Sie die Skateborder her: Die sehen aus, als hätten sie alle die gleichen weiten Hosen an. Stimmt nicht. Die haben ganz bestimmte Hosen an. Ein Hip-Hoper hat sein Kapperl verkehrt auf, dazu trägt er eine weite Hose, einen weiten Sweater und eine Short, die man sehen soll. Und bestimmte Schuhe. Die Mode macht heute alles möglich, um sich auszudrücken.

Das Gespräch führte Elfi Thiemer.

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