"Meine Spiritualität ist Verantwortung“

Werbung
Werbung
Werbung

Seit 26 Jahren baut Christian Wetschka für Menschen am Rande der Gesellschaft Brücken zurück ins Leben: Als Pastoralassistent der Wiener Caritasgemeinde, als Zuhörer, Entertainer - und großer Freund von Freiwillgkeit.

Sie ist ihm zufällig auf der Straße begegnet, diese Frau, die ihre gesamte Familie verloren hatte, die unter schweren Depressionen litt und aus deren Augen die pure Verzweiflung sprach. Jahrelang war sie jedem Menschen ausgewichen, der sich ihr nur nähern wollte. Bis Christian Wetschka ihr auf offener Straße anbot, doch einmal mit ihm ins Gespräch zu kommen. "Seitdem treffen wir uns einmal in der Woche und reden“, erzählt er im Pfarrhaus Altlerchenfeld. "Im Hinterkopf habe ich die Idee, dass sie wieder zurück muss zu den Menschen. Und ich will ihr dazu die Brücke bauen.“

Vielleicht findet diese Frau die Kraft, ein Mal im Monat an jener Begegnungsgruppe teilzunehmen, die Wetschka hier in der Mentergasse 13, der Heimat der Caritasgemeinde der Erzdiözese Wien, anbietet; vielleicht hat sie sogar Lust, eine kleine Aufgabe zu übernehmen: beim gemeinsamen Kochen; bei den sonntagabendlichen Gottesdiensten in der Meidlinger Namen-Jesu-Kirche; oder bei einem Theaterprojekt der Initiative "Kreativ am Werk“, die Wetschka vor über 20 Jahren im Vinzenzhaus der Caritas gegründet hat.

"Eines der größten Probleme unserer Gesellschaft ist jedenfalls die Einsamkeit“, weiß der Sozialpädagoge. "Wenn man immer allein Zuhause ist, dann schafft man es irgendwann nicht mehr, unter Menschen zu gehen. Das ist wie ein Muskel, der verkümmert.“ "Atrophie des sozialen Atoms“ nennt er dieses Phänomen in Anlehnung an den Soziologen Jacob Moreno, der den Menschen als Summe seiner Beziehungen begriff.

Entsprechend leidenschaftlich bemüht sich Christian Wetschka darum, den Muskel der Kommunikations- und Beziehungsfähigkeit wieder zu trainieren. "Wir versuchen hier als große Familie zusammenzuleben“, erklärt der 46-Jährige, der das Pfarrhaus als Ort der Begegnung versteht - und dementsprechend gestaltet hat: gedämpftes Licht, Kerzen, eine Couch und ein Klavier, an dem jemand Fingerübungen absolviert.

Knoten im Netz der Menschlichkeit

Offiziell ist der studierte Germanist und promovierte Philosoph als Pastoralassistent der Caritasgemeinde angestellt. Tatsächlich verkörpert er - gemeinsam mit Seelsorger Thomas Kaupeny - den zentralen Knoten in einem weitverzweigten Netz der Menschlichkeit: Wetschka organisiert nicht nur die Begegnungs- und Theatergruppe und tausend andere Dinge; er begleitet auch die Alkoholikerwohngemeinschaft in Cecily Cortis "VinziRast“ und ist Obmann des "Vereins Struktur“, der sich um Wohnraumbeschaffung für schwer Alkoholkranke kümmert. Daneben arbeitet er als Supervisor, hält Lehrveranstaltungen über "Grundfragen der psychosozialen Arbeit“ an der Wirtschaftsuniversität - und zaubert auch gern. "Er ist ein Universum von Mensch“, sagen manche Mitarbeiter. "Ich bin ein Menschenarbeiter und Entertainer“, sagt er über sich selbst. "Alles was ich tue, hat den Zweck, Menschen zusammenzuführen und ihnen zu sagen: Du kannst etwas! Du bist etwas! Machen wir etwas miteinander!“

Wie prägend solche Worte sein können, hat der Mann mit dem direkten Blick und der geschliffenen Sprache am eigenen Leib erlebt. 1966 in Wien geboren und als Sohn einer Alleinerzieherin aufgewachsen, kämpft er sich ängstlich und mit mäßigem Erfolg durch die Schule. Bis eines Tages ein fremder Lehrer in der Zehn-Uhr-Pause vor ihm steht und zu ihm sagt: "Wetschka, ich habe gehört, du bist gut in Deutsch, dich brauch ich in der Schulspielgruppe!“ Fortan ändert sich das Leben des 13-Jährigen von Grund auf: Gleich beim ersten Theaterprojekt erhält er die Hauptrolle. Im dritten Stück verkörpert er den Dichter Ernst Jandl, während dieser interessiert im Publikum sitzt. "Ich hätte mir später auch sicher nicht zugetraut, Germanistik zu studieren, wenn dieses eine Erlebnis nicht gewesen wäre“, meint Christian Wetschka. "Alles, was ich heute mache, ist eine Variation davon!“

16 Jahre lang arbeitet er im Vinzenzhaus der Caritas mit: zuerst als Zivildiener, zuletzt als Angestellter. 2003 übersiedelt er mit der Caritasgemeinde in das leer stehende Pfarrhaus Altlerchenfeld im siebten Wiener Bezirk. 150 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - viele davon in schwierigen Lebensumständen - kommen heute hierher, um Kontakte zu knüpfen und sich freiwillig einzubringen.

"Freiwilligkeit ist ein ganz zentrales Motiv in der Motivation“, weiß der Sozialpädagoge. Wie weit das gehen kann, zeigt das Beispiel jenes psychisch kranken Mannes, der im Raum neben Wetschkas Büro regungslos auf einem Sessel kauert. Eigentlich könnte er jederzeit in seine eigene Wohnung gehen. Doch statt dort auch nur einen Fuß hineinzusetzen, kommt er hierher oder schläft auf der Straße. "Seine Erklärung lautet, dass er sich diese Wohnung nicht selber aussuchen konnte - wie er sich nichts in seinem Leben selber aussuchen konnte“, sagt Christian Wetschka. Momentan bemühe man sich darum, eine andere Bleibe für den Mann zu finden.

Doch was, wenn auch das nicht klappt, wenn alle Versuche des Vernetzens und Einbindens scheitern? "Dann werden wir aus unseren Fehlern lernen und wieder von vorn beginnen“, meint der 46-Jährige unbeirrt. Erfolg oder gar Dankbarkeit seien zwar schöne Zusatzgeschenke, aber nicht das, was ihn eigentlich treibe: "Ich mache meine Arbeit, weil sie richtig ist“, sagt er. "Man könnte auch sagen: Meine Spiritualität ist Verantwortung.“

Berührungen, die Wunden schlagen

Diese Verantwortung hat er auch gespürt, als er beim Durchblättern der Altlerchenfelder Pfarrchronik auf eine vergessene Widerstandsgruppe stieß, die im April 1945 unter Einsatz ihres Lebens die Bombardierung des Bezirkes und ihrer Kirche verhindern konnte. Der 9. November steht nun ganz im Zeichen dieser mutigen Menschen (siehe unten): Man wird eine Gedenktafel enthüllen, im Keller des Pfarrhauses aus den Chroniken gelesen - und Wetschka selbst wird bei der Vernissage einer Ausstellung von Otto Ederer-Burger singen. Die Skulptur "Engel mit blutender Wunde“, die der ehedem suchtkranke Künstler geschaffen hat, steht bis heute in seinem Büro. "Sie zeigt, dass es zu unserem Leben gehört, berührbar zu bleiben“, sagt Christian Wetschka. "Und dass man sich dabei manchesmal auch Wunden schlagen lässt.“

Widerstand in Altlerchenfeld

Freitag, 9. November 2012. Ab 14 Uhr. Nähere Informationen unter www.pfarrealtlerchenfeld.at

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung