Mit einem Reiskorn fängt es an

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Vor 60 Jahren wurde das erste SOS-Kinderdorf in Imst errichtet. Südkorea wiederum ist die erste Etappe der Kinderdorf-Idee außerhalb Europas. Im Jubiläumsjahr gibt es 500 Kinderdörfer in 132 Ländern der Welt.

Kim Chung Suk, ein südkoreanischer Junge, bringt die über Europa hinausgehende Internationalisierung von SOS-Kinderdorf in Gang: 1963 reist SOS-Kinderdorf-Gründer Hermann Gmeiner in das zehn Jahre nach dem Koreakrieg noch völlig zerrüttete Südkorea. Angesichts tausender elternloser und herumstreunender Kinder wird er um Hilfe gebeten.

Zufällig trifft Gmeiner auf Kim. Sie machen Späße, schließen Freundschaft. Zum Abschied bekommt Gmeiner von Kim ein Reiskorn geschenkt. Reis symbolisiert in Korea Gesundheit, Friede, ein langes Leben und Glück. Die Idee mit dem Reiskorn wird geboren. Denn mit dem kleinen Kim und seinem Reiskorn beginnt eine auch nach heutigen Maßstäben äußerst erfolgreiche Mittelbeschaffungsaktion: Hermann Gmeiner beauftragt Kim, alle seine Freunde zu mobilisieren, ihm ebenfalls Reiskörner zu bringen. Mit einem Sack voll Reis kehrt er zurück und startet die Initiative "Ein Reiskorn für Korea!". In Österreich, Deutschland, der Schweiz, in den skandinavischen Ländern und schließlich in den USA werden Millionen einzelner Körner ("Ein Reiskorn für einen Dollar") an Haushalte verschickt. Noch im selben Jahr beginnt der Bau des SOS-Kinderdorfes in Daegu.

Heute gibt es 500 SOS-Kinderdörfer auf dem ganzen Globus (siehe unten). Das südlichste SOS-Kinderdorf ist auf der chilenischen Insel Chiloé, das nördlichste in Kandalakscha am Weißen Meer in Russland. Das höchste Kinderdorf befindet sich im bolivianischen El Alto auf 4200 Meter Seehöhe.

Erfolgsrezept: lokale Mitarbeiter

Das Erfolgsrezept seiner Institution erklärt SOS-Kinderdorf-International-Präsident Helmut Kutin so: "Bei der Qualität unserer Einrichtungen und Programme und beim Schutz von Kindern gibt es bei uns keine Kompromisse. Aber natürlich gibt es kulturelle, religiöse und soziale Besonderheiten in jedem Land, die wir achten. Dass jeder SOS-Kinderdorf-Verein und die Arbeit in den 132 Ländern fast ausschließlich von lokalen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen getragen wird, scheint mir hier ein entscheidender Erfolgsfaktor zu sein."

Lydia "Mama Lyd" Suelo ist eine dieser lokalen Stützen. Sie war 1967 die erste SOS-Kinderdorf-Mutter auf den Philippinen. "Als ich Hermann Gmeiner zum ersten Mal sah", sagt sie, "war ich sehr beeindruckt von seinem Antrieb und seiner Überzeugung, Kindern in Not zu helfen. Seine ausgeprägten Gesichtszüge hatten etwas Anziehendes, aber sein Blick war manchmal einschüchternd. Doch wenn er zu sprechen begann, rissen mich seine ermutigenden Worte mit." Ein Berufsleben lang, 29 Jahre hat Gmeiners Kinderdorf-Idee Mama Lyd mitgerissen. 29 Kinder hat sie in dieser Zeit großgezogen, die sie heute mit Dutzenden "Enkeln" besuchen kommen.

Die Veränderungen, die es in den SOS-Kinderdörfern gibt, kommentiert sie positiv: "Ich weiß, dass alle Veränderungen in der Organisation zum Wohl aller sein werden - von den Kindern bis hin zu den SOS-Kinderdorf-Müttern und den anderen Mitarbeitern." Neuen SOS-Kinderdorf-Müttern rät sie: "Wenn wir schon in einem SOS-Kinderdorf sind, sollten wir die Kinder als unsere eigenen ansehen. Es wäre doch Energieverschwendung, körperlich hier zu sein, im Geist aber irgendwo außerhalb des Dorfes. Wir sollten uns um uns selbst kümmern und unsere Zufriedenheit darin finden, für die Kinder zu sorgen."

Über die Entwicklung der Kinderdorf-Familie schreibt Dagmar Schwienbacher in ihrer Diplomarbeit an der Uni Innsbruck: "Bezüglich der Pluralisierung von Lebensformen lässt sich feststellen, dass diese im SOS-Kinderdorf zwar mit etwas Skepsis, aber dennoch als eine sehr positive Entwicklung gesehen und dargestellt wird."

Vervielfältigung der Lebensformen

Innerhalb des SOS-Kinderdorfes gibt es laut Schwienbachers Analyse eine Tendenz zur Vervielfältigung an Lebensformen auf verschiedenen Ebenen: Das Betreuungsangebot und somit die Gestaltungsmöglichkeit im SOS-Kinderdorf wurde deutlich vergrößert: "Die SOS-Kinderdorf-Familie stellt schon länger nicht mehr die einzige Lebensform im SOS-Kinderdorf dar." Und aus ihrer Analyse der Mütterwerbung zieht Schwienbacher den Schluss, dass heute "die Person der SOS-Kinderdorf-Mutter in stärkerem Maße berücksichtigt und ihre Individualität betont wird". Für Präsident Kutin ging das zahlenmäßige Wachstum der SOS-Kinderdörfer mit einem "inneren Wachsen" einher: "Um den Bedürfnissen der Kinder besser gerecht zu werden, betreut das SOS-Kinderdorf mittlerweile nicht nur Kinder, die ohne ihre leibliche Familie aufwachsen müssen. Dasselbe Gewicht hat inzwischen die Unterstützung von Kindern, die zwar noch mit ihrer eigenen Familie leben, aber unter schwierigen Bedingungen und deshalb in dem Risiko, verlassen zu werden. Beides, die inner- und die außerfamiliäre Betreuung, gehen Hand in Hand und haben zum Ziel, Kindern ein schützendes Zuhause zu sichern."

Aktuell ist SOS-Kinderdorf International in Sri Lanka gefordert. Nach dem Sieg der dortigen Regierung über die tamilischen Rebellen sind hunderttausende Menschen in Flüchtlingscamps untergebracht, darunter hunderte Kinder, die Voll- oder Halbwaisen sind bzw. die von ihren Familien getrennt wurden. SOS-Kinderdorf durfte als erste Kinderschutzorganisation die Lager besuchen, will jetzt provisorische Unterkünfte errichten und die Kinder betreuen. Parallel dazu soll nach dem Verbleib der Familien geforscht werden. Sollte sich die familiäre Situation nicht klären lassen, werden die Kinder in SOS-Kinderdörfern untergebracht.

Präsident Kutin: "Das ist der Auftrag von Hermann Gmeiner: wahrnehmen, was Kinder brauchen, hinhören, was Kinder sagen, einen schützenden Rahmen bilden, damit Kinder gesunden können und sich entfalten."

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