Mit Tränengas gegen Sozialprobleme

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Seit Wochen erleben einige nordenglische Städte wie Bradford immer wieder bürgerkriegsartige Unruhen. Asiatische Immigranten und Angehörige rechtsextremer Parteien liefern sich brutale Straßenschlachten mit unvorstellbarem Hass und Gewalt.

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Seit Wochen erleben einige nordenglische Städte wie Bradford immer wieder bürgerkriegsartige Unruhen. Asiatische Immigranten und Angehörige rechtsextremer Parteien liefern sich brutale Straßenschlachten mit unvorstellbarem Hass und Gewalt.

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Manchen Augenzeugen erschienen selbst Ausdrücke wie "schwere Krawalle" oder "Straßenschlachten" als unzutreffend. Was sich am vergangenen Wochenende in der nordenglischen Stadt Bradford zutrug, gemahnte sie schlicht an bürgerkriegsartige Szenen. Andere sprachen von einer Orgie der Gewalt und einem "bizarren Feuerrausch", wiederum andere von einem wilden Ausbruch der Wut und des Hasses. Doch wie immer die Begriffe lauteten, in die sie das Erlebte zu fassen suchten, aus allen klang ein tiefes Entsetzen darüber durch, dass es so weit kommen konnte.

"Pakis" - dieses dem hiesigen "Tschusch" vergleichbare - Schmähwort müssen sich viele Immigranten aus dem Subkontinent immer wieder gefallen lassen, ob sie nun tatsächlich aus Pakistan stammen oder aus Bangladesch, Indien oder Sri Lanka. Aus einem vorbeifahrenden Auto entgegengeschleudert, von einem Passanten hingeworfen, am Arbeitsplatz von Kollegen gemurmelt - "Pakis". Sie sind auch Jahrzehnte nach ihrer Ankunft in Großbritannien "die anderen" geblieben, Angehörige einer jener nicht-weißen Minderheiten, die die rechtsextreme Nationale Front (NF) und die Britische Nationalpartei (BNP) des Landes verweisen würden, hätten sie nur die Macht dazu. Denn die NF und die BNP sehen in ihnen eine Gefährdung aller Werte und Traditionen des weißen Britanniens.

Die Spannungen bestehen zumeist unterschwellig oder äußern sich in kleinen Alltagskonflikten. Doch auch Bradford hat schon Erfahrung gemacht mit rassistisch motivierten Unruhen, zuletzt zu Ostern in diesem Jahr. "Nach diesen letzten Ausschreitungen haben Polizei und diverse Behörden erklärt, sie würden etwas dagegen unternehmen. Doch nichts ist geschehen. Sie haben unseren Gemeinden noch nie zugehört", betonte nun ein schockierter Manwar Jan Khan von der Bürgervereinigung im Stadtteil Manningham, in dem es zu den schlimmen Zusammenstößen in der Nacht zum letzten Sonntag kam.

Wie genau die Worte lauteten, mit denen da Vertreter der Nationalen Front Teilnehmer einer Kundgebung der vorwiegend von Asiaten getragenen Anti-Nazi-Liga provoziert haben sollen, ist nicht bekannt. Wieder aber soll alles mit verbalen Attacken begonnen haben, auf die die Asiaten mit extremer Heftigkeit reagierten. Mehrere hundert bis zu eintausend Jugendliche und Männer waren dann in die folgenden Kämpfe verwickelt. Als nach rund neun Stunden wieder eine labile Ruhe einkehrte, präsentierte sich ein Bild der Zerstörung - geplünderte und verkohlte Gebäude säumten die Straßen, auf Gehsteigen und Fahrbahnen lagen Splitter von zerbrochenen Fenstern und Trümmer der eingesetzten Waffen, zu denen neben Brandbomben auch Baseballschläger, Steine und Hämmer gehörten. Mehr als 120 Sicherheitskräfte und mehrere Zivilisten wurden laut offiziellen Angaben verletzt, 38 Personen festgenommen, zwei Drittel von ihnen Asiaten.

Dieser Pauschalbegriff "Asiaten" hat sich, dies sei gleich hinzugefügt, für alle Einwanderer aus dem Subkontinent eingebürgert, wird von diversen südasiatischen Intellektuellen aber entschieden abgelehnt. Bei den in Bradford Verhafteten handelte es sich fast ausschließlich um Einwanderer aus Pakistan oder Bangladesch respektive deren Nachkommen, die die große Mehrheit der an die 100.000 Personen zählenden asiatischen Gemeinde der Stadt ausmachen.

Doch wer waren die Provokateure, wer die provozierten Asiaten? Wird man der Situation gerecht, indem man von Unruhestiftern spricht und davon, dass - wie es die konservative "Times" formulierte - immer häufiger "der Wunsch nach Ausschreitungen zur Ursache von Ausschreitungen" wird? Innenminister David Blunkett selbst wollte die Ereignisse von Bradford mehr als Ausdruck einer "mutwilligen Gewalt" und viel weniger als Folge rassistischer Spannungen verstehen: "Wir haben es mit Leuten zu tun, die bereit sind zur Gewalt und Selbstzerstörung", betonte Blunkett, der den Sicherheitskräften in Hinkunft bei Einsätzen wie dem in Bradford die Verwendung von Wasserwerfern und Tränengas gestatten will.

Frust & Ziegelsteine Auch eine Reihe von Vertretern der asiatischen Gemeinde distanzierte sich klar von allen Randalierern und Gewaltttätern. "In Bradford mit Ziegelsteinen zu werfen ist keine Art, tiefe Frustrationen auszudrücken", schrieb der linksliberale Guardian und ergänzte sofort: "Wasserwerfer sind jedoch auch keine Lösung."

Wie "die Lösung" aussehen könnte oder sollte, darauf ging die Zeitung in ihrem Kommentar nicht konkret ein. Sie warnte allerdings davor, antisoziale und kriminelle Elemente als Hauptschuldige abzustempeln und, wie Blunkett, tiefliegende gesellschaftliche Ursachen zu negieren. Damit schloss sie sich implizit jenen Vertretern von Menschenrechtsorganisationen und Antirassismusgruppen an, die seit langem eine ernsthafte Debatte zum Thema Rassismus in Großbritannien fordern. Denn so groß der Schock über die jüngste Gewalt in Bradford auch sein mag, derartige Ausschreitungen sind nichts Neues in Großbritannien, ob nun Zuwanderer aus Asien oder aus Afrika und der Karibik daran beteiligt sind. 1958 brannte der Londoner Bezirk Notting Hill, 1981 verwandelte sich das Südlondoner Viertel Brixton in ein Schlachtfeld, und der Funke sprang dann auf zahlreiche andere Städte wie Leeds und Liverpool über. Auch Bradford zählte neben Bristol und Birmingham zu jenen Orten, in denen es in den 80er Jahren mehrfach zu Unruhen kam. 1995 entlud sich die aufgestaute Wut der Asiaten von Bradford in neuen Ausschreitungen.

In dem Bericht, den er nach den Krawallen von Brixton vorlegte, kam Lord Scarman zu dem Schluss, dass "rassisch bedingte Benachteiligung im britischen Leben nicht zu leugnen ist". Diese Benachteiligung war seiner Überzeugung nach auch ein wesentlicher und ursächlicher Faktor bei den Unruhen in Brixton. In zahlreichen Untersuchungen ist seither von institutionalisiertem Rassismus in diversen Behörden und insbesondere auch in der Polizei die Rede gewesen, ein Übelstand, dem zu begegnen es nun zumindest die rechtlichen Vo-raussetzungen gibt. Mit dem Inkrafttreten des Zusatzes zum Gesetz über ethnische Beziehungen (Race Relations Amendment Act) in diesem Frühjahr sind staatliche Organe und Institutionen dazu verpflichtet, sich für die Gleichstellung aller Ethnien einzusetzen. Bürger können erstmals auch gegen Polizeiangehörige Klagen einbringen, wenn sie sich von diesen aus rassistischen Gründen diskriminiert fühlen. Eine eigene Kommission, die Commission for Racial Equality (CRE), soll über die Durchsetzung des Gesetzes wachen. Sie hat auch bereits zwei Handbücher herausgebracht, eines für die Bürger und eines für die Behörden.

"Friedfertige" Weiße?

Noch ist es viel zu früh, um die Auswirkungen des Gesetzeszusatzes beurteilen zu können. Die Vorwürfe, die nach den jüngsten Ausschreitungen in Bradford gegen die Polizei zu hören waren, belegten nur einmal mehr ein über die Jahrzehnte gefestigtes Miss-trauen vieler Asiaten gegen die vorwiegend weißen Sicherheitskräfte, auf die sie im Krisenfall kaum zählen könnten. Zugleich befürwortet zumindest ein Teil der asiatischen Gemeinde ein massiveres Polizeivorgehen gegen alle an Unruhen Beteiligten, auch die Nachkommen von Zuwanderern aus dem Subkontinent. Denn die durch derartige Krawalle verursachten Zerstörungen treffen viele asiatische Bürger, die in den meisten Fällen zu den ökonomisch benachteiligten Schichten gehören. Doch schwerer noch als der Sachschaden wiegt die Angst vor Vergeltung und vor einer Aufschaukelung der Atmosphäre.

Für die Nationale Front und die Britische Nationalpartei stellen die "gewalttätigen" Asiaten schon jetzt eine Bedrohung der - implizit friedfertigen - weißen Briten dar. Entsprechende Slogans scheinen anzukommen, hat doch die BNP bei dem Urnengang im Juni in einigen nord-englischen Städten zwischen elf und zwölf Prozent der Stimmen erzielen können. Unausgefüllt bleibt jedoch der weite Raum zwischen den "Nicht-Weiße raus"-Forderungen der BNP und NF auf der einen Seite und der Verabschiedung fortschrittlicher Gesetze auf der anderen. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Frage, wie denn Großbritannien mit seinen großteils aus Asien, Afrika und der Karibik kommenden ethnischen Minderheiten umgeht, die zwischen fünf bis sechs Prozent der Landesbevölkerung stellen, findet nicht statt.

"Bastadisierung" Auf massive Entgleisungen von Politikern wie der in diesem Frühjahr von Tory Peter Townend, der vor einer Bastardisierung Britanniens warnte, folgen Schönreden wie die vom damaligen Parteichef William Hague und New Labour Außenminister Robin Cook. Da bekennen sich plötzlich alle wieder zum multikulturellen Großbritannien und betonen die vielfältige Bereicherung, die das Land durch seine Zuwanderer erfahren habe. Doch in dem emotinalen Auf und Ab wird auf das Konkrete nicht eingegangen: nämlich auf die Frage, wie dieser Multikulturalismus im Alltag tatsächlich funktioniert, wie man Problemen und Spannungen begegnen könnte, ob vorhandene Gesetze ausreichend sind respektive umgesetzt werden. Auch die im Vorjahr vom angesehenen Runnymede Trust veröffentlichte Studie über die Zukunft des multiethnsichen Britanniens löste lediglich Aufregung wegen ihrer kritischen Hinterfragung des Begriffes "britisch" aus. Die sehr konkreten Vorschläge zur konkreten Verbesserung der zwischen-ethnischen Beziehungen haben, so sie überhaupt wahrgenommen wurden, jedenfalls keine öffentliche Diskussion einleiten können.

Was ist also wirklich schief gelaufen in Bradford und zuvor in diesem Sommer in Leeds, Burnley und Oldham? Diese Frage bleibt in der jetzigen Atmosphäre von Entsetzen, diversen Schuldzuweisungen und des Innenministers geplantem Einsatz von Wasserwerfern und Tränengas so unbeantwortet wie die, ob es noch schlimmer kommen wird. In Bradford oder anderswo.

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