Mitrudern im neoliberalen Boot

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Arm ist nicht nur, wer kein Geld hat (siehe Furche 26/1999, Seite 1). Die Zwänge derArbeitswelt lassen auch andere wichtige Lebensinhalte allmählich verarmen.

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Arm ist nicht nur, wer kein Geld hat (siehe Furche 26/1999, Seite 1). Die Zwänge derArbeitswelt lassen auch andere wichtige Lebensinhalte allmählich verarmen.

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Die Gegenwart bietet Tristes: Flucht aus dem Arbeitsrecht, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, ein System flexibler Unterbeschäftigung, Auflösung des Betriebsbegriffes und neues Nomadentum. Vollflexible Menschen also, mit schwankendem Einkommen und unplanbarem Leben.

Die Gegenwart geht aber auch mit einem neuen sozialpolitischen Konzept schwanger. Einem embryonalen Entwurf, meint Klaus Firlei, Furche-Autor und Universitätsprofessor am Institut für Arbeits- und Sozialrecht in Salzburg. "der nicht in eine Welt paßt, die politisch von Machterhaltung und privat von Besitzstandsverteidigung geprägt ist". Die Armutsdebatte dürfe aber nicht darauf verzichten, liebgewordene Selbstverständlichkeiten zu dekonstruieren, meint der Professor. Es gelte, die Zentralbegriffe des sozial- und armutspolitischen Diskurses zu dechiffrieren (entziffern), meint der Professor in seinem Aufsatz "Desillusionierung als Neubeginn". (siehe Buchtip) Andernfalls fänden wir alle uns im selben Boot des Neoliberalismus oder in wirkungslosen Diskussionsritualen wieder. Die beiden Hauptfragen: Was ist politisch machbar? Genügt es, Geld umzuverteilen?

Satter Markt Als soziales Hauptproblem der veränderten Arbeitswelt gilt zurecht der daraus entstehende Verarmungsprozeß. Ohne Geld ist der heutige Mensch keiner. Ist der Markt satt und der Mensch hungrig, wird die soziale Frage ausschließlich die der Geldverteilung.

Als folgerichtige Lösung bieten sich die unterschiedlichsten Modelle sozialer Grundsicherung an. Etwa das der Grünen: Jeder Mensch ab 19, der über kein oder zu geringes Einkommen verfügt, erhält eine Grundsicherung von 6.000 Schilling, plus 2.000 Schilling Wohngeld. Die Sozialversicherung wird vom Staat übernommen. Die Liberalen wollen die Grundsicherung in das Steuersystem integrieren und im Bedarfsfall als Steuerguthaben von bis zu 8000 Schilling auszahlen. Sozialministerin Lore Hostasch (SP) stellte unlängst das Modell der "Bedarfsorientierten Mindestsicherung" vor, das die bisherige Sozialhilfe modernisieren soll.

Zu all diesen Modellen der Grundsicherung gebe es zwar keine, den menschlichen Ansprüchen genügende Alternativen, sagt Firlei, "sie bergen aber dennoch Gefahren."

Wer sich nur an monetärer Grundsicherung orientiert, kann leicht zum Mitruderer im neoliberalen Boot werden. "Immerhin ist die Konzeption der Grundsicherung ein Kind des Verteilungsdenkens. Damit schöpft sie ihre Kraft aus der monetären Ökonomie. Man baut dabei auf soziale Qualität durch Geld", schreibt der Professor.

Armut ist nicht nur Geldmangel. Viele Menschen verarmen, obwohl sie Geld haben, sich Dinge zu leisten. Diese Pauperisierung (Verarmung) des Lebens bleibt "wegen der manischen Fixierung auf die einzige gültige Art des Reichtums, den der Waren und des Geldes, verborgen", so Firlei.

Einsicht & Solidarität Modelle der Grundsicherung, die eine neue Konzeption der Arbeit vernachlässigen, ändern nichts an der ökonomischen Wachstumsspirale, die Arme und Reiche immer mehr auseinanderdriften läßt. Die reine Geldwirtschaft verhindert menschlichen Reichtum. Nichterwerbsarbeit wird abgewertet, Streß gilt als Tugend, Zeit haben als Faulheit. Verheerend sind die Folgen für jene Arbeit, die aus Zusammenleben, Kooperation und Freundschaften entsteht. Gelebte Solidarität schließt das lineare Denken von Vorteilsmaximierung über Tauschakte aus. Firlei dazu: "Grundsicherungen sollten daher nicht Freizeit finanzieren, sondern autonome lebensweltliche Tätigkeiten außerhalb der Marktökonomie fördern".

Als Alternative zur Grundsicherung gilt das "klassische" Maßnahmenpaket: Gerechtere Verteilung der Arbeit, Ausbau des sozialrechtlichen Schutzes, Arbeitsplätze schaffen, Verteuerung der neuen prekären Arbeitsformen, um Dumping-Effekte zu verhindern. Firlei erlaubt sich dazu einige schlichte Fragen. Wie können Rechte eingefordert werden, wo kein Arbeitgeber mehr vorhanden ist? Wie soll Arbeit umverteilt werden, wenn der Maßstab nicht mehr die Arbeitszeit, sondern das Ergebnis ist? Wie soll ein Staat die neue Arbeit schützen, wenn ungeschützte Arbeit zum Wettbewerbs- und Standortvorteil wird?

Es geht um mehr als um eine neue Sozialpolitik. Es geht um einen neuen Gesellschaftsvertrag, der Grundsicherungen mit einem Neuentwurf der Arbeits- und Tätigkeitswelt kombiniert. Das Design einer lebenswerten neuen Zeit erfordert extreme Einsicht, Solidarität und Vorstellungskraft der Menschen. Und die Handlungsfähigkeit politischer Institutionen.

Woher soll das Subjekt der tiefgreifenden Reformen kommen? Wenn Arbeitnehmer und Sozialhilfeempfänger die "ökonomistische Sicht" des Lebens übernommen haben und Großreformen außerhalb der Reichweite der Politik liegen, wie Klaus Firlei behauptet. Seine Antwort, sagt er selbst, erscheint als verschrobene Zivilisationskritik, als Hirngespinst der vermutlich untergehenden Kultur- und Schriftgelehrten-Kaste: "Derartige einschneidende Veränderungen scheinen nur möglich, wenn zwei zentrale Denkkategorien (...), die Begriffe "Interesse" und "Ich", jedenfalls in ihrem gewalttätigen Absolutheitsanspruch, verabschiedet werden. "Das ,Ich' ist zu einer monströsen Armutsfalle degradiert und zu einem gewaltigen Hindernis für politische Gestaltung geworden.", meint Firlei. "Ich" und "(Eigen-)" Interesse stünden einem Denken in Zusammenhängen und Qualitäten, einer Ökonomie des Gebens, die sich an Werten, Produkten, Künsten, Haltungen und Ethiken orientiert, entgegen.

Mangel an Werten Die Antwort des Professors steht auf einem soliden wissenschaftlichen Fundament. Die Steuerungstheorie postmoderner Gesellschaften etwa bringt Beispiele, wie die egozentrische, lineare Glücksideologie des Menschen überwunden werden kann. Das Lineare löst sich heute mit den Strukturen auf. Die Politik steht vor dynamischen, unkontrollierbaren und extrem schnellen Teileinheiten. Firlei: "Die Gesellschaft ist heute subjektlos und quallenartig (...). Sie ist unsteuerbar, unübersichtlich und irrational. Sie ist damit biologisch geworden, eher einem Lebewesen, denn einer Maschine gleich."

Eine Gesellschaft, die in reich und arm zerfällt, wird gewalttätig. Dazwischen gibt es auch eine Ärmlichkeit, die nichts mit Mangel an Geld sondern an Werten zu tun hat. Und darüber hinaus gibt es einen Reichtum, der (wieder) zu entdecken wäre. Subjekte mit "Selbst"-Bewußtsein könnten das, meint Klaus Firlei. Die sind fähig, sich gegenseitig zu verpflichten, ein Leitbild vom guten Leben zu vereinbaren und sich als Teil einer sinnvollen Ordnung zu begreifen. Egal, ob dies ihren jeweiligen aktuellen Interessen entspricht oder nicht.

Wer gilt als arm?

Rund eine Million Menschen in Österreich leben mit einem (gewichteten) Pro-Kopf-Einkommen unter 7.500 Schilling monatlich. 420.000 davon haben zusätzlich mindestens einen von drei "Armutsfaktoren" aufzuweisen: miserable Wohnung, Zahlungsrückstände bei Miete und Strom und mangelhafte Ernährung.

Buchtip Es ist genug für alle da!

Erwerbsarbeit und soziale Sicherheit, (Hg.: Die Armutskonferenz. Österr. Netzwerk gegen Armut und soziale Ausgrenzung) Wien 1999, 142 S., öS 150,- e 10,90.0Bestellungen an: Die Armutskonferenz c/o KSÖ Schottenring 35/DG, 1010 Wien, Tel: 310 51 59.

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