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Musik: Das Instrument des Nicht-Hinnehmens

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Von Beethoven über Bob Dylan bis hin zum Kalush Orchestra – oft bilden Musikschaffende das klangliche Fundament inmitten eines gesellschaftlichen Umbruchs. Über den Rhythmus der Zeitenwende und die Klänge des Protests.

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Von Beethoven über Bob Dylan bis hin zum Kalush Orchestra – oft bilden Musikschaffende das klangliche Fundament inmitten eines gesellschaftlichen Umbruchs. Über den Rhythmus der Zeitenwende und die Klänge des Protests.

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Ukrainische Musik ist in westlichen Staaten nicht weitverbreitet gewesen – bis vor einem Monat. Damals gewannen die ukrainischen Vertreter, das Kalush Orchestra, mit ihrem Song „Stefania” den Eurovision Song Contest (ESC). Politisch war und ist das Stück eigentlich nicht, es entstand vor dem Krieg, als eine Art Hommage an die Mutter des Sängers Oleg. Doch durch den Krieg gewann der Song an politischer Bedeutung, das energiegeladene Lied, vor allem der Refrain, in dem moderne und traditionelle Klänge verschmelzen, befeuerte die Herzen vieler Menschen.

Einer der Sänger des Kalush Orchestra war nicht zum ESC-Finale angereist, weil er bei Kiew kämpfte. Und zumindest einige Zeilen des Stückes gewannen eine neuen Kontext. Sie hat mich als Baby geschaukelt, sie gab mir einen Rhythmus, Und Willenskraft kannst du mir nicht nehmen, die hab’ ich von ihr. Ich glaube, sie wusste mehr als König Salomon. Ich werde immer meinen Weg nach Hause finden, auch wenn alle Straßen zerstört sind. (Kalush Orchestra, „Stefania“)

Todeszeiten, Umbruchzeiten, Zeitenwenden

Nun sind nicht nur die Straßen der Ukraine zerstört, sondern auch tausende Leben, die nicht mehr den Weg nach Hause finden können. Todeszeiten, Umbruchzeiten, Zeitenwenden. Die Zeiten ändern sich radikal. Angesichts des Krieges ist die kurze Zeit der Stille, des Innehaltens, vor gut zwei Jahren für Augenblicke durch das Corona-Virus bewirkt, bereits in Vergessenheit geraten. Diese Stille deutete an, dass Veränderung möglich ist, eine radikale Veränderung, um die Welt vor dem Kollaps zu retten – der Umwelt- und Klimakatastrophe.

‚Come gather ’round people wherever you roam
And admit that the waters around you have grown‘…
Then you better start swimmin’ or
you’ll sink like a stone
For the times they are a-changin’
(B. Dylan: The Times They Are A-Changin‘)

Sang vor 60 Jahren und singt auch heute noch der Meister des Songs, Bob Dylan. Die Welt gerät aus den Fugen, die Gewässerpegel, sie steigen unaufhörlich, unbarmherzig. Und die Menschen, vor allem die jungen Menschen, protestieren dagegen an. Sie skandieren zu Tausenden, inzwischen gar zu Millionen, an allen Enden des Globus‘. Skandieren ist eine rudimentäre Form der Musik, des Rhythmus, und dieser ist Taktgeber, Schrittmacher von Kopf und von Herz. Musik schleudert heraus aus dem Takt des Alltags, dessen Rhythmen Algorithmen sind und Kontrolle bedeuten, Kälte, maschinelle Taktung, Effizienz, Zeitmanagement.

Die Musik kann den Sieg des Zeit-Regimes zumindest zeitweilig aufbrechen, kann subtil vermitteln, dass Politik nicht auf einen engen Horizont zu reduzieren ist, sondern auf die lange Dauer. „Die Zeit ist kurz, die Kunst ist lang“, heißt es. So währt auch die Musik fort. Musik kann Instrument des möglichen Aufruhrs sein, des Nicht-Hinnehmens.

Die Töne, der Gesang, das Tanzen liefern einen Treibstoff, vielleicht den wichtigsten, für die Veränderung: den Mut.

Schon die Bauernkriege im 16. Jahrhundert kannten Protestlieder. Und im 19. Jahrhundert, jenem, das die Weichen stellte zum industrialisierten Heute, waren es nicht nur Beethoven, der mit seiner revolutionären Musik der Revolution der Gesellschaft das klangliche Fundament verleihen wollte, oder Richard Wagner, der den Mythos vollends in die politische Sphäre einimpfte. Es waren auch Arbeiter, welche gegen Ausbeutung sangen – gegen Machtmissbrauch, Diktatur, Ausbeutung:

Dem Morgenrot entgegen,
ihr Kampfgenossen all!
Bald siegt ihr allerwegen,
bald weicht der Feinde Wall!

Macht Musik das kaputt, was den Menschen kaputt macht? Sollte sie das überhaupt? Kann Musik wirksamer Protest sein? Für Menschenrechte, Würde, Freiheit? Die Töne, der Gesang, das Tanzen – echte Veränderung können sie wohl kaum bewirken.

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Dennoch: Sie können zumindest einen, vielleicht den wichtigsten Treibstoff, für die Veränderung liefern – den Mut. Gegen die Erstarrung, gegen die Angst. Herbert Grönemeyer hat keine,

Angst
Angst braucht Waffen
aus Angst vor dem Feind,
obwohl keiner so recht weiß:
Wer ist damit gemeint?
Angst überholt zu werden,
Angst vor Konkurrenz
Angst vor der Dummheit,
vor ihrer Intelligenz.
(H. Grönemeyer: Angst)

Jedes Aus-Sich-Heraus-Singen, auch jedes instrumentale Aus-Sich-Heraus-Spielen von Hoffnung, von Wut, von Leiden, vom Ringen mit der Welt, von Trauer, von Freude – ist stets ein kleiner oder großer Sieg über die Angst. Die Angst ist Gegenpol der Liebe, sie ist für die menschliche Psyche, für das menschliche Leben ebenso fundamental wie für das Politische. Damit aber kann jeder einzelne musikalische und musikalisch inspirierte Sieg über die Angst zugleich ein Schritt in Richtung Freiheit werden, Freiheit als eines der fundamentalen Ziele von Politik.

Wenn dies so ist, dann wäre vor allem live gespielte und erlebte Musik in ihrem Kern politisch – weil Musik stets in der fließenden Zeit, als Performance geschieht und ein energetisches Licht-Zentrum schafft. „Egal, ob seine Werke politisch sind oder ob er Schlager singt“, sagt Konstantin Wecker. „Kein Künstler darf sich jetzt mehr raushalten. Europa droht faschistisch zu werden. Wir müssen etwas dagegen tun.“

Durch eine musikalische Klammer zusammengehalten

Nicht nur in Europa, auch in Lateinamerika gelangen rechtsgerichtete Regierungen an die Macht. Kollektiviert sich Mut, durch eine musikalische Klammer zusammengehalten, kulminiert er in Liedern wie dem chilenischen „Das vereinte Volk” (El Pueblo unido). Das Stück stammt aus der Feder von Sergio Ortega Alvarado, der Text, den die Gruppe Quilapayún 1973 kurz vor dem Sturz der sozialistischen Allende-Regierung verfasste, war seit Ende 2019 auf den Straßen Chiles, auf den es zu blutigen Protesten mit mehreren Dutzend Toten gekommen ist, erneut zu hören – vorgespielt von engagierten Musikerinnen und Musikern, intoniert von zehntausenden Wütenden und Mutigen.

Aufstehen und kämpfen,
Das Volk wird siegen!
Das Leben, das kommen wird,
Wird besser sein.
Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden.

Das Stück hat eine solche Breiten- und Tiefenschicht, dass der US-amerikanische Pianist Frederic Rzewski vor mehr als vierzig Jahren ein grandioses Klavierkonzert darauf bauen konnte – er schrieb auf Basis der schlichten, eingängigen Melodie des Stücks 36 Variationen: „The People United will never be defeated“.

Tausende Anhänger heben zu bombastischer, uniformierender Marschmusik die Hand zum Hitlergruß. Eine in sich geschlossene Masse von Menschen ist es, ein Block, in dem in diesem Moment kein Riss sichtbar ist, kein Bruch möglich scheint.

Rzewski ordnete sein Werk in sechs Gruppen mit je sechs Variationen – die je ersten fünf symbolisieren die fünf Finger der revolutionär geballten Faust und die sechste Variation fasst alles nochmals zusammen. Rzewski starb im vergangenen Jahr, er führte das monumentale Werk bis zuletzt auf.

Kann man mit Musik Politik beeinflussen? „Wahrscheinlich nicht“, antwortete er vor Jahren. Doch er ergänzte. „Aber man muss so schreiben, als ob man könnte. Du kannst da nicht sicher sein. Du könntest.“ Ein Jahr nach Ausbruch der Proteste kam es in Chile zu einem Verfassungsreferendum – das Volk stimmte mehrheitlich für die Überwindung der alten Verfassung aus der Zeit der Pinochet-Diktatur, derzeit erarbeitet ein Konvent, an dem viele Vertreter(innen) bisher benachteiligter und diskriminierter Menschen beteiligt sind, eine neue Verfassung.

Nur Oskar spielt auf der Blechtrommel

Es gibt eine vielsagende Szene in Günther Grass‘ „Blechtrommel“, in der Filmfassung von Volker Schlöndorff brillant umgesetzt. Da wettert ein Nazi-Funktionär bei einer Massenkundgebung gegen das „schmähliche Versailler-Dikat“. In die Danziger Freiluft-Szenerie fährt sodann ein noch höherstehender Nazi-Funktionär ein. Tausende Anhänger heben zu bombastischer, uniformierender Marschmusik die Hand zum Hitlergruß.

Eine in sich geschlossene Masse von Menschen ist es, ein Block, in dem in diesem Moment kein Riss sichtbar ist, kein Bruch möglich scheint. Nur der kleine Oskar spielt auf seiner Blechtrommel. Er sitzt versteckt unter der Tribüne und schlägt, ganz und gar bewusst, den dröhnenden Marsch aus dem Takt, kratzt mit seinen zwei Stöcken, seiner Idee, den dünnen Lack des Massenaufmarsches auf. Plötzlich spielen die ersten Musiker, Oskar nicht sehend, auf der Tribüne aus der Reihe: als erstes die uniformierten Kinder, die sich von Oskars Gegen-Rhythmus anstecken lassen; dann einer der vielen Trompeter, der mit einem Jazz-Motiv die dumpfe Triumph-Melodie zerschneidet; dann immer weitere Musiker, die, nach kurzem Chaos, gemeinsam einen Wiener Walzer intonieren.

Die deutschen Danziger, anstatt stramm und stumm dazustehen, beginnen zu lachen, sich zu bewegen – und zu tanzen. Die Masse löst sich auf, der lokale Leit-Nazi verzweifelt, weil niemand mehr gehorcht.

„In allem ist ein Bruch“, sang Leonard Cohen. „Dort dringt das Licht hinein.“ Nein – Musik wird keine Revolution auslösen. Keine, die die Menschen auf gemeinsame Barrikaden bringt. Revolution wird nur durch die politische Realität ausgelöst, durch die brutale Realität des Alltags. Dessen Teil ist Musik jedoch – mit offenem Schlussakkord.

Bob Dylan, der vor langer Zeit den „Harten Regen“ kommen sah, hat zu Beginn seines Wirkens einen der eindringlichsten Anti-Krieg-Songs geschrieben:

Masters of War.
You fasten the triggers
For the others to fire
Then you set back and watch
When the death count gets higher
You hide in your mansion
As young people’s blood
Flows out of their bodies
And is buried in the mud
(B. Dylan: Masters of War)

Dylan schrieb den Song auf dem Höhepunkt der Hochrüstung während des Kalten Krieges. Die Worte gelten heute wie damals. Dylan hat den Song 884 Mal live gesungen. Unzählige Cover-Versionen gibt es. Er benennt die Dinge, wie sie sind, man könnte sagen: die abstrakte, brutale, wissbare Wahrheit. Doch gibt es durch das Lied auch nur einen Toten weniger? Wäre die Welt eine andere auch nur für eine einzige Person, wenn es dieses Lied nicht geben würde?

Ergeben diese Fragen Sinn, wenn es um Musik geht? Konstantin Wecker singt: „Es geht ums Tun, nicht ums Siegen.“ Dieses Tun als Musik schafft Sinn, auch wenn sie sich verflüchtigt im ausklingenden Ton des letzten Verses, des letzten Tastenanschlags. Auf den stets ein neuer folgen kann – im Prinzip Hoffnung.

Aus der Ukraine sind dieser Wochen und Monate immer wieder Aufnahmen zu sehen und hören gewesen, in denen ukrainische Musiker(innen) auf Straßen, aber auch in Kellern und Metrostationen aufspielen. Inzwischen dominieren laute und trotzige Lieder, patriotische Hymnen, die den Kampfes- und Kriegswillen befördern, die Raketen hochleben lassen. „Es gibt so viele neue ukrainische Lieder – über Waffen, über die bewaffneten Drohnen ‚Bayraktar‘... die Menschen brauchen das einfach!“, sagt die ukrainische Sängerin und Geigerin Oksana Stebelska, die mit ihren Kindern nach Deutschland floh.

Nicht all diese Musik ist schön. Das muss, das kann sie nicht sein im Krieg. Musik ist eben auch ein Spiegel. Und sie hat wie der Mensch vor allem ein Merkmal: Sie lebt und ist so, wie das Leben ist.

Standbild Navigator - © Foto: Die Furche

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