Nachahmen oder selbst erfinden?

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Die Geschichte der Vorbilder reicht von Sokrates bis David Alaba - und zeigt in ihrer ganzen Buntheit vor allem eines: Dass Menschwerdung ohne Modelle nicht möglich ist.

Man schrieb den 26. Mai 2013. Im Londoner Wembley-Stadion war gerade der Schlusspfiff das Champions-League-Finales ertönt, bei dem Bayern München die Konkurrenz aus Dortmund niedergerungen hatte. Kurz darauf sah man den Links-Außen-Verteidiger der Bayern mit auffälligem T-Shirt in die Kameras jubeln: "Meine Kraft liegt in Jesus“, stand darauf zu lesen. Mit diesem Bekenntnis stemmte er sodann als erster Österreicher den Pokal.

David Alaba, 20-jähriger Wiener mit philippinischen und nigerianischen Wurzeln sowie Mitglied der Freikirche der "Siebenten-Tags-Adventisten“, mutierte in diesem Moment zum Idol einer halben Nation, zum "Abgott“, wie es in der lateinischen Wurzel "idolum“ heißt, zur Projektionsfläche für die Sehnsüchte Hunderttausender - und wohl auch zum Leitbild mancher junger Christen.

Wie viele - und vor allem welche - österreichische Jugendliche den Fußballer seither als Vorbild nennen, ist bislang nicht erhoben. Die 13. deutsche Shell Jugendstudie, die zuletzt im Jahr 2000 eingehend nach Vorbildern fragte, lässt freilich darauf schließen, dass unter seinen Adoranten überwiegend Burschen sind. Während damals 34 Prozent der männlichen Befragten einen Sportler als Modell nannten, nach dem sie sich ausrichten würden (der Vater folgte mit 23 Prozent erst auf Platz zwei!), so gaben die Mädchen vor allem ihre Mutter (27 Prozent) sowie Sängerinnen an (16 Prozent).

Politiker? Harry Potter!

Eine neue Studie der Erziehungswissenschafterin Angela Ittel von der TU Berlin kommt zu ähnlich geschlechterstereotypen Ergebnissen: Bei ihrer Befragung von 113 Schülerinnen und Schülern im Alter von elf Jahren gaben Buben als "Fernvorbilder“ gleichfalls überwiegend Sportler zu Protokoll, wobei ihnen Eigenschaften wie Mut und Erfolg besonders wichtig waren; Mädchen bevorzugten hingegen Sängerinnen und Schauspielerinnen, bei denen ihnen neben Sympathie vor allem Erfolg und Aussehen imponierten. Lehrer oder Politiker fielen insgesamt nicht ins Gewicht.

Umso mehr zieht es Jugendliche heute zu medial vermittelten Heldinnen und Helden: Sie fliegen auf Harry Potter und die Simpsons, sie himmeln Hannah Montana an und die Zuchtmeisterin von "Germany’s next Topmodel“, Heidi Klum. Gleiche Helden zu haben stabilisiere eben Peer-Groups und verleihe "kulturelles Kapital“, weiß die Salzburger Kommunikationswissenschafterin Ingrid Paus-Hasebrink. Heranwachsende, insbesondere jene aus sozial benachteiligten Familien, verlangen nach medialen Protagonisten, "die sie virtuell an die Hand nehmen und ihnen einen Weg weisen durch die Schwierigkeiten ihres Identitätsaufbaus“. Für diese Aufgabe stehen mehr als hundert mediale Figuren bereit - samt einer Armada aus Merchandisingprodukten.

"Die Zeiten stabiler Leitbilder und homogener Wertstrukturen scheinen vorbei zu sein“, heißt es in der Shell-Studie anno 2000. Zehn Jahre später konstatiert man immerhin, dass die Eltern nach wie vor "für Jugendliche die wichtigsten Vorbilder im Hinblick auf die Lebensbewältigung“ seien.

Das kommt nicht wirklich überraschend - auch nicht für den Grazer Soziologen Manfred Prisching: "Menschwerdung ohne Vorbilder ist nicht möglich“, sagt er bei der Pädagogischen Werktagung Salzburg. "Es sind andere Menschen, ihre Verhaltensweisen und Interaktionen, an denen Menschen lernen. Man nennt das Sozialisation.“ Freilich ist die Vorbildsuche über den Nahbereich der eigenen Familie hinaus im Laufe der Geschichte deutlich schwieriger geworden. Wurde man früher einfach Bäuerin, Händler oder Priester, so muss man sich in modernen Gesellschaften "auf die Suche nach Freiheitseinschränkungen begeben“, so Prisching. Durch sukzessiv wegbrechende Sinnstiftungsmodelle gibt es zudem keine unhinterfragbaren Vorbilder mehr. Als Konsequenz wird einfach das zum Lebensziel erkoren, was alle Kanäle als Ideale transportieren: Geld (Wer nicht ganz vorne mitspielt, ist ein Loser!), Konsum (Wer mit dem meisten Spielzeug stirbt, hat gewonnen!) und Schönheit (Wer mit digital geschönten Models nicht mithalten kann, der soll sich gefälligst unters Messer legen!).

Um bestmögliche Angleichung an ein ideales Modell geht es schon in der Antike - wobei hier der Fokus nicht auf der Ästhethik, sondern noch auf dem Charakter liegt, wie die Kölner Pädagogin Ursula Frost erklärt. "Du aber, wenn du auch noch kein Sokrates bist, solltest so leben, als wolltest du einer werden“, weist der griechische Stoiker Epiktet seine Schüler an. Auch im Christentum ist von "Imitatio Christi“ die Rede, allerdings im Sinne persönlicher Nachfolge. Den Aufklärern hingegen werden Vorbilder als Form der Fremdbestimmung zunehmend suspekt; noch kritischer zeigen sich die Reformpädagogen, denen es um authentische Selbstfindung geht. Ab 1968 will man schließlich ganz auf Modelle verzichten: "Vorbilder sind doch nur eine Art pädagogischer Lebertran, den jeder mit Widerwillen schluckt, zumindest mit geschlossenen Augen“, heißt es in Siegfried Lenz’ Roman "Das Vorbild“ (1973). Heute ist Selbstfindung immer mehr Selbsterfindung, man bastelt sich virtuelle Identitäten und lässt sich chirurgisch zurechtschnipseln, um Barbie, Ken oder Heidi zu gleichen. "Mit unseren technischen Möglichkeiten haben wir die Nachahmung zur Kopie gemacht“, sagt Ursula Frost. Ein Szenario, das Günther Anders schon 1956 in "Die Antiquiertheit des Menschen“ eindrucksvoll skizzierte.

Reale Vorbilder, trügerische Idole

Umso lauter ertönt die Forderung nach Orientierung und "echten“ Leitbildern. Nach Frost besteht die Herausforderung vor allem darin, zwischen konkreten Vorbildern (mit all ihren Schwächen) und Idolen (mit ihren perfekten Oberflächen abseits aller Lebenswirklichkeiten) zu unterscheiden. Was von den Jungen am Ende"kopiert“ wird, ist ihre Sache - wirft aber zugleich ein Licht darauf, was in unserer Gesellschaft tatsächlich Wertschätzung erfährt: "Wir können noch so viele Vorbilder wie Mutter Theresa oder Albert Schweitzer in unsere Bücher schreiben“, meint die Pädagogin. "Wenn in unserer Gesellschaft eher Models geschätzt werden, dann kommt genau das an.“

Wie lange David Alaba noch als Poster in Österreichs Jugendzimmern hängen wird, bleibt also abzuwarten. Als Sport-Idol mit Bekenner-Bonus stehen seine Chancen aber gut, noch ein Weilchen dort zu verharren.

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