Nesthocker mit Flugangst

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Junge Menschen werden immer früher reif - körperlich wie emotional. Gleichzeitig sind sie immer länger abhängig von finanziellen und materiellen Zuwendungen.

Marko Doringer liegt voll im Trend. Er ist in den 30ern und hat noch nichts erreicht - so sieht er es zumindest selbst. Er hat keine Berufsausbildung, im Lebenslauf kann er nur zwei abgebrochene Universitätsstudien anführen. Privat sieht es für ihn nicht besser aus: Er hat weder Frau noch Freundin, wohnt in einer winzigen Wohnung in Berlin und muss regelmäßig ums finanzielle Überleben kämpfen. Verständlich, dass sich seine Eltern Sorgen machen um ihren "Buben".

Letztes Jahr hat Marko Doringer einen Dokumentarfilm über seine Situation gedreht: "Mein halbes Leben". Darin zeigt der junge österreichische Filmemacher seine derzeitige Lebenslage und die seiner Freundinnen und Freunde, die alle im gleichen Alter sind und vor ähnlichen Problemen und Fragen stehen: Was habe ich bisher erreicht? Was will ich mit meinen Leben noch anstellen? 2008 erhielt der Film den "Großen Diagonale Preis".

Marko ist jedoch kein Einzelfall. So wie ihm geht es vielen jungen Erwachsenen - ein gesellschaftliches Phänomen. Kinder werden immer früher reif - nicht nur körperlich. Die Zeit der behüteten und sorglosen Kindheit endet bei vielen jungen Menschen bereits mit dem Wechsel von der Volksschule in die Hauptschule beziehungsweise in die Unterstufe der Allgemeinbildenden Höheren Schule. Ab der fünften Schulstufe bekommen Schüler einen Vorgeschmack darauf, was sie in der Zukunft, im Berufsleben erwarten wird. Angesichts der Wirtschaftskrise und steigender Jugendarbeitslosigkeit erhöhen viele Lehrer den Druck auf ihre Schützlinge.

Das Leben ist kein Spiel

Die Leistungsgesellschaft hat Einzug gehalten in die heimischen Klassenzimmer. Nur wer jetzt schon darauf achtet, gute Schulnoten zu bekommen, erhält die Chance auf eine Lehrstelle oder einen Platz in einer weiterführenden Schule. Und selbst die Matura öffnet heute keineswegs mehr so viele Türen wie noch vor zehn oder zwanzig Jahren. Fachhochschulen wählen die besten Maturanten eines Jahrgangs aus - nur diese haben Aussichten auf einen Studienplatz und die damit verbundenen Job-Verheißungen. Selbst an den Universitäten gibt es für immer mehr Disziplinen Aufnahmeprüfungen und Knock-Out-Examen nach wenigen Semestern, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Viele junge Erwachsene haben heute begriffen, dass das Leben kein Spiel ist. Dass man darauf achten muss, Höchstleistungen zu bringen, um mithalten zu können.

Diese neuen Wertigkeiten, dieser Druck und diese Herausforderung führen dazu, dass viele junge Erwachsene länger abhängig bleiben von der Unterstützung der Eltern - finanziell wie materiell. Galt es früher als erstrebenswert, so bald wie möglich das Elternhaus zu verlassen, steht nun Pragmatismus im Vordergrund. "Warum soll ich ausziehen und ein Vermögen für Miete und Betriebskosten ausgeben, wo ich doch bei meinen Eltern umsonst wohnen kann?", fragt Bruno G., 27-jähriger Wirtschaftsinformatikstudent aus Wien. So wie Bruno denken viele, bestätigt Philipp Ikrath, Jugendforscher am Institut für Jugendkulturforschung in Wien. "Früher hatte der Auszug von zu Hause einen symbolischen Wert, es ging um den Weg in die Unabhängigkeit. Das ist heute nicht mehr so, immer mehr junge Erwachsene ziehen immer später aus, Tendenz steigend", sagt Ikrath. Das Zusammenleben von Eltern und Kindern habe sich in den letzten Jahrzehnten massiv verändert. "Früher waren Eltern streng, Vorschriften beherrschten das Familienleben. Heute sind Eltern wesentlich liberaler, dadurch sehen viele Jugendliche nicht mehr die Notwendigkeit, sich von Vater und Mutter abzugrenzen. Heute leben Eltern und Kinder nicht miteinander, sondern nebeneinander", bringt es Jugendforscher Ikrath auf den Punkt.

Junge Männer wohnen länger daheim

Dass Jugendliche immer länger daheim wohnen, läge daran, dass heute 40 bis 45 Prozent der Jugendlichen studieren, sagt Ikrath mit Blick auf aktuelle Zahlen. "Jugendliche, die eine Lehre gemacht haben, ziehen in der Regel früher aus, da sie auch früher finanziell unabhängig sind - sie verdienen ja ihr eigenes Geld", erklärt Ikrath.

Besonders interessant an diesem Phänomen ist der Gender-Aspekt. Es sind vor allem junge Männer, die sich nur langsam von daheim losreißen können und den Sprung in die eigene Wohnung wagen. "Junge Männer haben weniger Probleme damit, noch daheim zu wohnen, denn es ist unterm Strich auch bequemer: Sie bekommen die Wäsche gewaschen, es wird für sie gekocht und ihr Zimmer wird regelmäßig geputzt", sagt Ikrath. Frauen hingegen würden mehr auf ihre Unabhängigkeit Wert legen, glaubt der Jugendforscher. Bei jungen Frauen sei der Freiheitsaspekt stärker ausgeprägt, gleichzeitig hätten sie immer das Gefühl, sich beweisen zu müssen, sagt Ikrath.

Nesthocker im Film und Fernsehen

Neben der Filmbranche, die sich mit Streifen wie "Tanguy - Der Nesthocker" der Thematik annimmt, ist mittlerweile auch das deutsche Privatfernsehen auf diesen "Trend" unter jungen Männern aufgesprungen. "Schluss mit Hotel Mama" heißt es Sonntag für Sonntag. TV-Zuseher können wöchentlich dabei sein, wie Eltern die eigenen Kinder vor die Tür setzen, weil sie es leid sind, ihre angeblich nichtsnutzigen und faulen Kinder auszuhalten. "In jeder Episode muss ein Nesthocker ohne Vorwarnung das bequeme Heim verlassen, hinaus in die weite Welt ohne freie Kost und Logis und ohne Zimmerservice - dafür mit vielen Herausforderungen", heißt es auf der Homepage der Sendung. Erst ein Monat später darf der "Nesthocker", nach Rücksprache mit einem "Lebens-Coach", wieder zurück in sein gewohntes Wohn-Umfeld.

Doch die Abhängigkeit beschränkt sich oft nicht nur auf das Finanzielle und die Wohnsituation - auch emotional bleiben immer mehr junge Erwachsene abhängig von ihren Eltern. "Ich denke, das kennt jeder: Man kommt in das Elternhaus und schwups ist man in der Rolle des Kindes beziehungsweise man nimmt wieder jene Rolle ein, die man in den ersten 20 Lebensjahren, gespielt' hatte", sagt Filmemacher Doringer in einem Zeitungsinterview. In dem Dokumentarstreifen wird dieses Vater-Sohn-Rollenverhältnis zum Mittelpunkt des Films: auf der einen Seite der erfolgreiche Papa, auf der anderen Seite der Studienabbrecher, der mit Videos seinen Lebensunterhalt verdienen will - eine untragbare Situation für den besorgten Vater. Er kann (und will) seinen Sohn nicht ernst nehmen. "Dreh doch Urlaubsvideos und mach dein Studium endlich fertig, ich zahl dir das auch", muss sich Doringer von seinem Vater regelmäßig sagen lassen - vielleicht besucht er seine Eltern deswegen nur zweimal im Jahr.

Längere Jugendphase

"Früher gab es drei Schritte zum Erwachsenwerden: Ausziehen, die Gründung einer Familie und die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. So wie die Zeitspanne zwischen sexueller und sozialer Reife immer größer wird, liegt auch zwischen diesen drei Punkten immer mehr Zeit", sagt Philipp Ikrath. Erst wer seine eigene Wohnung hat, einen Lebenspartner und einen Job, sieht sich selbst als erwachsen an - und das kann dauern. Dadurch sei die empfundene Jugendphase einfach länger, weiß Jugendforscher Ikrath. "Außerdem ist heutzutage Erwachsensein kein Wert, Jungsein hingegen schon. Es gibt viele Leute über 30, die sich noch als Jugendliche bezeichnen würden, sie gehen in dieselben Lokale wie vor zehn Jahren und tragen noch immer dieselbe Kleidung", so Ikrath. "Ich fühle mich noch gar nicht wie 27", sagt Bruno G. "Wenn ich daran denke, dass meine Eltern in diesem Alter bereits ein Kind hatten und ein Haus bauten, während ich noch daheim wohne und studiere, komme ich jedoch manchmal ins Grübeln", gesteht der 27-jährige Student. Noch drei Jahre, dann ist auch "sein halbes Leben" vorbei.

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