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julian schutting über den Pastorensohn, Kulturpessimisten, Arzt und Dichter Gottfried Benn.

In Gottfried Benn, mag sein in ihm als einem der letzten, bestätigt sich, daß die deutsche Hochintelligenz 400 Jahre lang aus dem Pfarrhaus gestammt hat, weitverzweigt auch blutsverwandt: ist 1886 als Pastorensohn in einem preußischen Nest geboren. in seinen Eltern, die Mutter Französin, haben sich die "germanische" und die "romanische Rasse" europäisch vermählt. (Begriffe wie "Rasse" und "Züchtung" werden ihm wichtig sein: Genialität sei nicht vererbbar, aber offenbar zu züchten ...)

daß er in seinem Denken von den Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts geprägt wäre? humanistisches Gymnasium in Frankfurt an der Oder, danach in Marburg ein paar Semester Philologie, Philosophie, Theologie, dann erst Medizinstudium in Berlin. seine Essays und Aufsätze (wie: Das moderne Ich. / Medizinische Krise. / Genie und Gesundheit. / Der Aufbau der Persönlichkeit. / Physik 1943. / Provoziertes Leben. / Bezugssysteme) erweisen ihn als mit der Hirn-und Genforschung, mit der Anthropologie, Ethnologie, Psychiatrie, Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts wohlvertraut. Französisch ist seine zweite Muttersprache, er hat eine Vorliebe für die lateinisch-romanische Kultur, überblickt die europäische Geistesgeschichte und wäre in seiner universellen Bildung einem Goethe an die Seite zu stellen (siehe auch seinen grandiosen Essay "Goethe und die Naturwissenschaften").

im Geist eines Nietzsche verachtet er die Masse, kann den sozialen Bewegungen nichts abgewinnen. ("Die Armen wollen von jeher hoch, aber die Reichen nicht herunter ... ich halte Arbeit für einen Zwang der Schöpfung und Ausbeutung für eine Funktion des Lebens"). was Gewerkschaften unter Demokratie verstanden, das war ihm ein Greuel, zuwider war ihm die Vulgäraufklärung, Intellektualismus und Humanitätsphilosophie, die als ein Geschwätz.

geschichts-und zivilisationsfeindlich gibt er sich (von Blut begeistert und nicht zivilisierbar sei der Gang der Geschichte), unter Berufung auf die Spartaner (Aufsatz: "Dorische Welt. Eine Untersuchung über die Beziehung von Kunst und Macht"; ideologisch heikel), und von Pallas Athene (Aufsatz "Pallas", gegen die Mutterrechtler geschrieben und ihm daher als frauenfeindlich auszulegen), der dem Vaterhaupt Entsprungenen, leitet er die "progressive Zerebralisation" her, unsere Verhirnung, Intellektualisierung ... und er gefällt sich als ein Kulturpessimist und Nihilist: nichts sei der einzelne Mensch wert, nur auf ganz wenige komme es an, da nur eines zähle: Stil, Arterhaltung durch die Kunst. an deren "progressive Anthropologie" glaubt er, alles Übrige solle zu Grunde gehen ...

"Artistik" sei dem schwammig Tiefsinnigen der deutschen Kunst entgegenzusetzen, an der Moralität der strengen Form der romanischen Rasse habe sich ein moderner Dichter zu orientieren - das Drängen nach Ausdruck, das sei die Welt des Künstlers -, als etwas Phänomenales seien die Kunstwerke historisch unwirksam: "Nichts an ihnen weist über sich hinaus, ..., nichts will wirken außerhalb seiner selbst. Es ist ein Zug in sich versunkener Gestalten, schweigsamer und vertiefter Bilder". (daß die Substanz in der Form aufzugehen habe und die Technik die Wahrheit des Kunstwerks sei, dergleichen wird nach ihm auch bei Adorno zu lesen sein.)

als ein junger Pathologe und Serologe publiziert er 1912 sein erstes Gedichtheft "Morgue" (ein Beispiel daraus: "Kleine Aster. / Ein ersoffner Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt. / Irgendeiner hatte ihm eine dunkellila Aster / zwischen die Zähne geklemmt. / Als ich von der Brust aus / unter der Haut / mit einem langen Messer / Zunge und Gaumen herausschnitt, / muß ich sie angestoßen haben, denn sie glitt / in das nebenliegende Gehirn. / Ich packte sie ihm in die Brusthöhle / zwischen die Holzwolle, / als man zunähte. / Trinke dich satt in deiner Vase! / Ruhe sanft, / kleine Aster!").

Freundschaft nun mit den Berliner Expressionisten, Else Lasker-Schüler widmet ihm, als "Giselher", "Nibelunge" und "Barbar" besungen, passionierte Liebesgedichte.

1914: als Schiffsarzt nach Amerika unterwegs, mit Beginn des I. Weltkriegs Militärarzt in Belgien. 1932 Mitglied der Preußischen Akademie der Künste. Rede auf Heinrich Mann. 1933-34, nach vielen Publikationen, der große Irrtum, als ein "Schicksalsrausch" beschönigt. wird von den Praktiken der "NS-Horden" 1935 wachgerissen: wählt die "aristokratische Emigration in die Armee". wird trotz der Hetze gegen ihn im "Schwarzen Korps" der SS und im "Völkischen Beobachter" ("widernatürliches Schwein", "warmer Bruder", "Judenjunge"...) von seinem General als Oberstabsarzt gehalten (in dem Stimmungsbild "IV. Block II, Zimmer 66" wäre die Lähmung vorm Kriegsende nachzulesen). 1945 eröffnet er in seinem Berlin eine Armenpraxis, als ein Facharzt für Haut-und Geschlechtskrankheiten.

die Gedichte seiner nachexpressionistischen Zeit stehen in seltsamem Widerspruch zu seiner These, ein modernes Gedicht werde wie in einem Laboratorium kalt hervorgebracht - sie alle beben vor Sentiment, bestätigen aber, als Variationen eines Musters, seine Auffassung, Stil werde von Wiederholungszwängen erzeugt. substantivistisch dominierte Gebilde sind sie ("Substantive! Sie brauchen nur die Flügel zu öffnen, und Jahrtausende entfallen ihrem Flug"), Evokationen von Mythen, die in uns, tief unter den Schichten kollektiven Vergessens, heraufgeholt zu werden warten, in nüchterner Trunkenheit:

"Ein Wort, ein Satz -: / aus Chiffren steigen / erkanntes Leben, jäher Sinn, / die Sonne steht, die Sphären schweigen, / und alles ballt sich zu ihm hin. // Ein Wort - ein Glanz, ein Flug, ein Feuer, / ein Flammenwurf, ein Sternenstrich - / und wieder Dunkel, ungeheuer, / im leeren Raum um Welt und Ich".

zu seinem fünfzigsten Todestag, seinen siebzigsten Geburtstag hat er knapp überlebt, sei eines seiner letzten Gedichte abgeschrieben, nämlich das, welches sich als sein allerletztes liest. wollte ihn fragen können, ob ihm bewusst war, dass von dem all das Mitleidlose hinweggenommen ist, das er jemals geschrieben hat:

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