Nur Sklaven kennen keine Muße

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Seit ewigen Zeiten machen sich die Menschen Gedanken über Sinn und Zweck der Arbeit. Stehen wir jetzt wieder an einem Wendepunkt?

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Seit ewigen Zeiten machen sich die Menschen Gedanken über Sinn und Zweck der Arbeit. Stehen wir jetzt wieder an einem Wendepunkt?

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Tages Arbeit, abends Gäste! Saure Wochen, frohe Feste!" "Arbeit ist des Bürgers Zierde. Segen ist der Mühe Preis!" "Arbeit macht das Leben süß." "Nach getaner Arbeit ist gut ruhn." "Arbeit ist keine Schande!" "Bete und arbeite!" Arbeiten und nicht verzweifeln!" "Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen." Sprichwörter und Zitate über die Arbeit: In der Sprache gefrorenes Denken.

Schon seit ewigen Zeiten machen sich die Menschen Gedanken über die Arbeit. Stehen wir jetzt wieder an einem Wendepunkt?

17 Millionen Menschen sind allein in der Europäischen Union arbeitslos. Die Verantwortlichen der EU nehmen das Problem ernst. Bei jedem EU-Gipfel gibt es Erklärungen zu diesem Thema, jede kleine Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt wird als Jubelmeldung ausposaunt.

Arbeitslosigkeit - Ein Schreckgespenst, verbunden mit Einschränkung der Ansprüche, Angst, Leere, sozialer Abwertung, Verlust des Selbstwertgefühls. Vollbeschäftigung - das Ziel aller europäischen Politiker. Und immer mehr Stimmen, die verkünden: Die Arbeit geht uns aus, das Ende der Erwerbsarbeitsgesellschaft ist gekommen, eine von der Hochtechnologie produzierte Arbeitslosigkeit ist irreversibel. Der Innsbrucker Sozialethiker Herwig Büchele (und nicht nur er) sieht uns mit ziemlicher Sicherheit auf eine 4/4-Gesellschaft zusteuern: ein Viertel der Bevölkerung werde permanent arbeitslos sein, das zweite Viertel um die Armutsgrenze herum arbeiten (Mini-Jobs), ein Viertel werde wie jetzt auf Langzeitarbeitsplätzen arbeiten, als Lehrer, Universitätsprofessoren, Beamte; das oberste Viertel werden jene Leute sein, die im High-tech-Bereich arbeiten, mit sehr hohen Löhnen. Sie müssen sehr mobil und flexibel sein, weil sie den Marktkräften am meisten ausgesetzt sind.

Griechische Vorbilder Wollen wir eine derart gespaltene Gesellschaft? Wenn nicht, wo ist der Ausweg? Offenbar in einer Bewußtseinsrevolution, in einem Umdenken, was die Arbeit betrifft.

Ihre dominierende Stellung hat die Erwerbsarbeit erst in den letzten 200 Jahren bekommen. Ein langer Blick zurück zeigt: Die alten Griechen verachteten manuelle Arbeit.

Für große griechische Denker wie Platon und Aristoteles war Handwerksarbeit nicht nur schlecht, sondern schmachvoll. Das Arbeiten im Sitzen, das Arbeiten unter dem Dach verschmähten sie; da wurde man nicht braun gebrannt, wie sich das für einen Mann gehörte. Der Arbeiter wurde gering geschätzt, weil er in der Zeit, in der er sich mit der Herstellung eines Produkts beschäftigte, nicht am Gemeinwesen teilnehmen konnte. Viel gearbeitet haben im alten Griechenland die Sklaven und die Frauen. Für einen freien Mann war es undenkbar, nur "Staatspassagier" zu sein; jeder wollte an der Fortbewegung des "Staatsschiffes" mitwirken, während für den heutigen Menschen das Politische nur ein Teilbereich ist und persönliche Sorgen ihn voll mit Beschlag belegen; diese politisiert er, indem er sie an den Staat heranträgt als Forderung, etwa nach mehr Rente oder kürzerer Arbeitszeit.

Eine zentrale Vorstellung der Griechen könnte heute neue Aktualität gewinnen, die schole, die Muße. Das Wort wurde im Lateinischen zu "schola", im Deutschen zu "Schule". Heute eine groteske Vorstellung, die Schule als Muße zu empfinden. Doch für die Griechen galt geistige Beschäftigung nicht als Arbeit. Und noch bis in unser Jahrhundert gab es an den berühmtesten britischen Universitäten, in Oxford und Cambridge, keine Abschlußprüfungen, denn die jungen Gentlemen bildeten sich für ein Leben der Muße, wie es schon Aristoteles gefordert hatte: "Überall und immerzu nach dem handgreiflichen Nutzwert zu fragen, paßt am allerwenigsten zu einem großgesinnten und frei denkenden Menschen." Aristoteles versteht seine Muße nicht als eine verführerische Einladung zu einer schönbemäntelten Nichtstuerei, sondern als eine ernste Herausforderung zu tätiger menschlicher Lebenserfüllung.

Der Herausgeber der Buchreihe "Lebendige Antike", Klaus Bartels, faßt das Denken der griechischen Oberschicht bezüglich Arbeit so zusammen: "Während wir der ,Arbeitszeit' die von der Arbeit freie ,Freizeit' gegenüberstellen, stellten die Griechen umgekehrt der ,schole, der Muße, die der Muße beraubte ,ascholia', die ,Unmuße' gegenüber. Das moderne Begriffspaar geht von der Arbeit aus, die uns einiges an Freizeit übrigläßt; das antike geht von der Muße aus, die zu einem guten Teil der Unmuße verfällt.

Zu sich selbst kommen Die Muße ist für Aristoteles die von jeglicher Verpflichtung verschonte Zeit, die der Mensch "für sich selbst" hat, in der er "zu sich selbst" kommt: die Zeit, in der einer den Sinn und das Glück seines Lebens finden kann. Die Unmuße mit ihren vielfältigen Verpflichtungen ist aus dieser Sicht lediglich die notwendige Voraussetzung dazu. Entsprechend erkennt Aristoteles der Muße den Vorrang vor der Unmuße zu: "Wir leisten die Unmuße, um uns die Muße leisten zu können." "Sklaven haben keine Muße", sagt ein altgriechisches Sprichwort, und das nicht nur, weil sie keine Zeit zur Muße haben, sondern weil ihnen die Bildung dazu fehlt. "Das dringliche Postulat einer besonderen Bildung zur Muße als einer recht eigentlichen menschlichen Bildung, noch vor aller Anleitung zu dieser oder jener einträglichen Unmuße - das ist der höchst aktuelle Leitgedanke der aristotelischen Bildungspolitik."

"In der Muße kommt man den Göttern nahe": Das hat nichts mit Freizeitbeschäftigung, Kräftesammeln für neuen Arbeitseinsatz zu tun; in der Muße, wie sie die Griechen verstanden, betrachtet der Mensch die Dinge dieser Welt daraufhin, wo ihre innere Ordnung liegt - und das ist das Göttliche.

Beruf und Berufung Im Christentum hingegen galt Arbeit stets als Teil des Lebens. In seinen Anfängen war das Christentum eine Kleine-Leute-Religion, und "kleine Leute" mußten schon in der Antike arbeiten. Als sie in ihrer Erwartung des Messias mit dem Arbeiten aufhören wollten, ermahnte sie der heilige Paulus: "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen." "Bete und arbeite", dieser Benedikt von Nursia zugeschriebene Wahlspruch gilt für einige christliche Orden, nicht für alle. Eine interessante Aufwertung des arbeitenden Menschen geht auf Martin Luther zurück. Durch ihn wurde die Berufung, die "vocatio", zu dem, was heute "Beruf" heißt. Nicht nur der geistliche Stand ist nach Luther "berufen", sondern jeden setzt Gott an seine Stelle, und was er dort tut, ist seine Berufung. Die Anhänger des französischen Theologen Calvin gingen noch einen Schritt weiter: Auf Verzicht und Arbeit ruht Gottes sichtbarer Segen, meßbar am Erfolg einer Leistung.

Wie also könnte heute ein Umdenken bezüglich Erwerbsarbeit aussehen? Der Wiener Soziologe Rudolf Richter: "Alle Studien zeigen uns, daß Erwerbsarbeit in der Werthaltung der Bevölkerung keine so zentrale Rolle spielt, wie es die öffentliche Diskussion vor allem in Zusammenhang mit der Arbeitslosigkeit erscheinen läßt." Viele Menschen erleben ihre Erwerbsarbeit nicht als sinnstiftend, auch nicht als identitätsstiftend. Herwig Büchele plädiert daher für ein neues Modell: die Tätigkeitsgesellschaft. Würden die derzeitigen Leistungen des Sozialstaates eingestellt und erhielte dafür jeder ein Grundeinkommen, das abnimmt, je mehr einer verdient, verdienen will, dann würden Energien freigesetzt: Einen Teil ihrer Zeit würden die Menschen im Bereich der Erwerbsarbeit zubringen, den anderen in "Eigentätigkeit", in sozialen Netzwerken, Nachbarschaftsdiensten. Man sollte darüber diskutieren ...

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