Offene Grenze

19451960198020002020

Warum Herzlosigkeit ein Ausdruck von eklatanter Hirnlosigkeit ist: Auszug aus dem neuen Buch "Was ich glaube. Überlegungen &Überzeugungen".

19451960198020002020

Warum Herzlosigkeit ein Ausdruck von eklatanter Hirnlosigkeit ist: Auszug aus dem neuen Buch "Was ich glaube. Überlegungen &Überzeugungen".

Werbung
Werbung
Werbung

In Bildein, an der österreich-ungarischen Grenze im Süd burgen land, gibt es seit ein paar Jahren entlang der alten Grenze einen Grenz-Erfahrungs-Weg. Ein Weg, der uns zeigt, wie früher das eine Land vom anderen, Menschen von herüben und von drüben, sich durch Trennung abgegrenzt haben. Wer heute entlang dieses Weges geht, spürt nichts mehr von der Grenze als Trennlinie. Die Grenze ist offen. Aus dem Eisernen Vorhang ist ein Ort der Begegnung geworden. Aus der Angst vor dem Fremden ist die Neugier aufeinander geworden. Aus Menschen, die sich gegenseitig misstraut haben, sind Menschen geworden, die zueinander kommen, miteinander gemeinsame Wege gehen.

Erinnerung an die Emmausjünger

Dabei muss ich an die biblische Erzählung der Emmausjünger denken. Zwei Männer gehen nach Jesu Tod resigniert von Jerusalem nach Emmaus. Das Unternehmen "Jesus" scheint vorbei zu sein, die Weggemeinschaft mit ihm zu Ende. Und in dieser Abendstunde, auf diesem resignierten Weg zurück ins heimatliche Emmaus, gesellt sich zu den beiden ein Fremder. Sie laden ihn ein, gemeinsam mit ihnen weiterzugehen. Dabei kommen sie ins Gespräch und merken gar nicht, wie schnell die Zeit vergeht.

Plötzlich stehen die beiden am Ziel ihrer Wanderung, der Fremde aber will weitergehen hinein in die Dunkelheit der Nacht. Er fasziniert sie und die beiden bringen es nicht übers Herz, ihn allein zu lassen. "Bleib doch bei uns, denn es ist Abend, der Tag hat sich geneigt", sagen sie zu ihm und laden ihn ein, die Nacht in ihrem Haus zu verbringen, gemeinsam zu essen und zu trinken. Aus der Resignation zweier Freunde wird eine Begegnung mit einem Fremden. Aus der Weggemeinschaft wächst eine Erzählgemeinschaft, aus der Erzählgemeinschaft eine Mahlgemeinschaft, aus dem Miteinander unterwegs durch die Fremde wächst ein gemeinsames Dach über den Köpfen der daran beteiligten Menschen.

Das ist das Programm, an das ich denken muss, wenn ich an dieser ehemaligen Grenze zwischen Österreich und Ungarn im Südburgenland stehe. Das ist das Programm der Menschen in einem vereinten Europa - vor allem jetzt, wo dieses Europa überzugehen droht von Menschen, die aus der Fremde kommen. Aus den Krisenherden dieser Welt flüchten sie zu uns. Sie kommen hierher, in der Hoffnung, bei uns finden zu können, was sie für das nackte Überleben brauchen. Ich allerdings bin überzeugt davon, dass wir ihnen genauso viel verdanken, wie sie von uns erhoffen. Sie erbitten von uns das Mindeste, aber sie geben uns das Nachhaltigste, das wir im Leben erlangen können: nämlich die Erkenntnis, wie arm wir wären, würden wir unser Leben nicht als Geschenk begreifen.

Die Möglichkeit eines Programms

Wir geben ihnen die Hoffnung auf ein besseres Leben, sie geben uns die Gelegenheit, das, was wir haben, mit anderen zu teilen! Freilich: Das Allermeiste dieses Programms liegt noch vor den allermeisten von uns. Eine Utopie? Möglich! Aber eben eine Möglichkeit. Und wir haben heute mehr Möglichkeiten als je zuvor, Grenzen zu überschreiten, trennende Mauern niederzureißen und Wege zueinander zu finden. Die Angst vor dem Fremden macht blind. Die Begegnung mit ihm macht neugierig. Je mehr ich mit ihm unterwegs bin, je länger unser gemeinsamer Weg ist, umso mehr kann ich begreifen, dass er so ganz verschieden von mir nicht ist. Jeder Mensch ist Ausländer, fast überall, aber überall, wo ein Mensch auf einen Menschen trifft, lernen beide voneinander, beide sind sie nach dieser Erfahrung weit reicher als zuvor. Darum sagen auch die Jünger von Emmaus am Ende dieses gemeinsamen Erlebnisses: "Brannte nicht unser Herz, als er unterwegs mit uns redete?"

Genau das sollten Menschen einander wünschen: dass aus Begegnungen mit anderen Menschen nicht Argwohn wächst, sondern Herzen zu brennen beginnen. Wo das gelingt, hat alles Rechnen ein jähes Ende. Wer gibt, was er hat, macht viele satt. Wer rechnet, bevor er gibt, bekommt nie genug. Seine Rechnung mag stimmen, verliert sich aber in toten Zahlen, die das Herz nicht erreichen. Die Grammatik des Herzens ist der Überfluss, nicht die Milchmädchenrechnung. Ein Mensch mit Herz gibt, bis es wehtut! Wer den Mut hat, auf andere, die ihm fremd sind, zuzugehen, wird staunen, wie leicht und beglückend es sein kann, anderen nicht nur ein Dach überm Kopf anzubieten, sondern auch seinem Herzen einen Ruheplatz zu geben. Ohne solche Menschen wäre unsere Welt nicht nur um vieles ärmer, sie wäre vom Stacheldraht der Herzlosigkeit in Geiselhaft genommen. Im Sommer 2015 hat ein renommierter österreichischer Journalist rund um die Debatte zur Frage der Abschiebung von Flüchtlingen gemeint, dass Österreich zu zögerlich abschiebe und dass Hirnlosigkeit fast immer schlimmer sei als Herzlosigkeit. Gerne schließe ich mich seiner Meinung an, allerdings nur, wenn er mir bestätigt, dass Herzlosigkeit ein Ausdruck eklatanter Hirnlosigkeit ist.

Was ich glaube

Überlegungen & Überzeugungen. Von Arnold Mettnitzer. Styria Premium 2015.192 Seiten, geb., € 22,90

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung