Ohne Lernen ist nichts zu erfahren

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Am meisten lernt ein kluger Mensch auf Reisen", wird als ein Ausspruch Goethes überliefert. Und ihm haben seine italienischen Reisen ja nicht nur Kunstkenntnisse, sondern auch Leidenschaft und Liebe gebracht. Er hat ein "neues Menschsein" in Italien gelernt. Die Reisen haben ihn gewandelt.

Vor Ostern, am Karfreitag,besuchte ich Venedig. Die Stadt war so voll, dass man nicht weiterkam. Hunderte Menschen, davon die Mehrzahl in Gruppen, trugen die Narrenkappen der Fastnachtszeit, und ihr Benehmen war närrisch. Doch gab es nicht nur die Zeitverrückung des Karnevals auf Ostern. Auf dem Markt neben der Rialto-Brücke wurden Mitbringsel eingekauft, von denen viele aus Taiwan stammten. Manchen Besuchern schien es auch gar nicht wichtig, was sie kauften. Dort gewesen zu sein ist alles. Ja wo war man denn überhaupt? Und warum gerade dort? Die Kulturzentren und -stätten rund um die Sehenswürdigkeiten Europas mutieren langsam zu einem einheitlichen Disney-Land, von Paris bis Wien, von Florenz bis Rom ...

Wiener Büros, die seriöse Kulturreisen für Gruppen veranstalten, klagen darüber, dass sie die Jungen verlieren. "Erlebnisse" sind in. Für Reisen werden zunehmend Erlebnisse versprochen, vor allem sich selber gegenüber. Und das eigentlich Individuelle, etwas für sich zu erleben, wird rasch von außen kanalisiert und für die Erlebnissucher kommerzialisiert. Die Verheißung endet für manche in Enttäuschung. Kommt ein Unbehagen auf, wird es oft auch geleugnet. Man schiebt es auf die Umstände, dass alles anders kam als erwartet. Das Wetter, die knappe Zeit oder die Menschen, mit denen man beisammen war, seien schuld daran, dass die Reise nicht die Erwartungen erfüllt habe.

Aber gab es überhaupt Erwartungen? Zum Erlebnistrip gehört doch, dass man sich nichts Bestimmtes erwartet. Man entläßt sich in Situationen und die sollen es dann bringen. Und bringen sie's nicht, so war man eben irgendwo. Wir reisen in einer Flut von Angeboten, in der Überschwemmung mit Menschen und Sachen und geraten in eine Neutralisierung gerade dieses Anderen hinein, das oft wegen seines Andersseins uns angelockt hatte.

Es gibt ein wichtiges Heilmittel, die Überraschung, die Veränderung zu gewinnen, die man sich vom Reisen wünscht. Es gibt eine Alternative zur Erlebnisgesellschaft. Die Überraschung ist doch umso größer, je genauer die Vorstellungen sind, die man sich vorher von dem macht, was man sehen will. Die Frau Ute im Naumburger Dom stellte ich mir seit Jahrzehnten als edle weibliche Schönheit der gotischen Plastik vor und wollte sie sehen. Sie war, als ich sie kürzlich wirklich sah, dann ganz anders, viel herrschaftlicher, abweisender, vielleicht sogar spöttisch. Das hatte ich nun nicht erwartet. Aber ich hatte etwas gelernt. Damit meine ich die Alternative zum Erlebnisangebot: nämlich durch Vorweg-Bilder und durch Erwartungen etwas hervorzurufen, was dann durch den Eindruck selber verändert wird.

Lernen also statt Erleben? Von einer Reise soll etwas hängen bleiben. Vielleicht kann man das Erfahrung nennen. Dazu gehört aber die Lernbereitschaft. Ohne Lernen ist nichts zur erfahren.

Unlängst hat ein Großvater seinen Enkeln ein Mikroskop geschenkt. Aber er legte den beiden Jungen nahe, ein Beobachtungs-Protokoll in einem Heft zu führen und zu notieren, was sie bei ihrer Reise in die Mikrowelt gesehen und gefunden hatten.

Johann Wolfgang Goethe hat auf seinen Reisen viel gezeichnet und aufgeschrieben. Jahrzehnte, nachdem er Reiseerkenntnisse als Tagebuch in Italien notiert hatte, kam er wieder auf das Frühere zurück und redigierte es. "Verweile doch, du bist so schön." Es mag das Tagebuch oder Skizzenbuch von einer Reise nicht jedermanns Sache sein. Aber etwas niederzuschreiben, besonders das Irritierende oder Eindringliche, hilft vielleicht, gerade jenen Zipfel von einer Reise festzuhalten, jenen Eindruck, der über das Erlebnis hinaus zur Erfahrung werden konnte.

Der Autor ist Professor für Soziologie in Wien.

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