Osterweiterung hat ihren Preis

19451960198020002020

Ende März wird Polen die offiziellen Beitrittsverhandlungen mit der EU aufnehmen. Doch welchen Preis muß dieses Land, das den Reformprozeß in Europa initiiert hat, dafür bezahlen?

19451960198020002020

Ende März wird Polen die offiziellen Beitrittsverhandlungen mit der EU aufnehmen. Doch welchen Preis muß dieses Land, das den Reformprozeß in Europa initiiert hat, dafür bezahlen?

Werbung
Werbung
Werbung

Seit Beginn dieses Jahres müssen Besucher aus Weißrußland und Rußland bei der Einreise nach Polen entweder eine amtlich registrierte Einladung oder eine vorausbezahlte Hotelbuchung vorlegen. Die meisten Kleinhändler aus diesen Ländern, die die polnische Grenze für nur einen Tag passiert haben, um hier die begehrte Westware, angefangen bei Bekleidungsstücken aus polnischen Nähereien, Fernsehantennen, bis hin zu Nirostatöpfen und billiger Elektronik aus Deutschland, zu erwerben, können sich die jetzt auf etwa 300 Schilling gestiegenen Kosten nicht mehr leisten. Und für viele von ihnen ist diese Tätigkeit lebensnotwendig. In Weißrußland verdient beispielsweise ein Ingenieur etwa 600 Schilling. Und dieses Geld wird ihm noch mit Verzögerung von einigen Monaten ausbezahlt. Mit einer Fahrt nach Polen konnte er bis jetzt immerhin 60 Schilling verdienen.

Am meisten von den neuen polnischen Maßnahmen zur Einschränkung des Reiseverkehrs aus dem Osten sind etwa eine Million Bewohner der russischen Enklave von Kaliningrad, dem früheren nördlichen Ostpreußen um Königsberg, betroffen. Bislang fuhren gerne die Bewohner von Kaliningrad über die Grenze, um in Polen einzukaufen, in Danzig in die Disco zu gehen, oder das Grau des Russisch-Kaliningrader Alltags zu vergessen. Jetzt können sich nur noch Reiche den Blick über die Grenze erlauben. Ein Luxushotel in dem nur 150 Kilometer entfernten mazurischen Erholungsort Mikolajki ist nach wie vor ein beliebtes Ziel zahlungskräftiger Gäste aus Königsberg. Auch in den polnischen Grenzstädten im früheren südlichen Ostpreußen herrscht trübe Stimmung. Läden und Märkte in Bartoszyce oder Goldap gehen pleite, weil die Kundschaft aus dem Gebiet Königsberg ausbliebt.

Wodkaschmuggel Ähnlich ist die Situation an der polnisch-weißrussischen Grenze. So lebte nach offiziellen statistischen Angaben im polnischen Terespol jede zweite Familie vom Zigaretten- und Wodkaschmuggel. (Terespol ist nur eine Zugstation vom weißrussischen Brest entfernt.) Nach dem Inkrafttreten des neuen Ausländergesetzes ist nach Angaben der Handelsverbände indes auch der legale Handel in der Grenzregion fast zum Erliegen gekommen. In Bialystok beklagen die Händler, die sich vor allem auf weißrussische Käufer eingestellt haben, einen Umsatzrückgang im Jänner um die Hälfte. Auf dem Marktplatz von Bialystok verkaufen zwei ältere Frauen Bekleidungsstücke. Die staatliche Pension reicht kaum zum Überleben. So sind sie gezwungen, hier zu arbeiten. "Früher konnten wir hier recht gut verdienen. In diesem Jahr reicht es gerade noch, um die Marktgebühren zu bezahlen. Wir arbeiten hier weiter, weil wir unseren Stand nicht aufgeben wollen und hoffen, daß sich die Situation bessern wird", erzählen sie.

In Bialystok haben sich die Menschen bereits organisiert. Aus Protest gegen eine Verschärfung der Einreisebestimmungen für Besucher aus Weißrußland haben polnische Händler den Verkehr am polnisch-weißrussischen Grenzübergang lahmgelegt. Etwa 1.000 Einwohner der ostpolnischen Stadt Bialystok versperrten vor kurzem mit ihren Autos die Zufahrt zur Zoll- und Grenzanlage. "Unsere Demonstrationen waren bis jetzt sehr friedlich und ich möchte sagen, fast auf europäischem Niveau, aber wenn uns die Regierung weiter nicht ernst nimmt und unsere Arbeitsplätze, die wir uns selbst geschaffen haben, vernichtet, werden wir mit Gewalt vorgehen", erklärt der Vorsitzende des polnischen Verbandes zur Verteidigung der Kleinhändler, Zygmut Jakimowicz. In Bialystok leben vom Handel mit Osttouristen etwa 30.000 Menschen. Andere Arbeitsplätze gibt es für sie in dieser Region nicht.

Die neuen Einreisebestimmungen haben verheerende Folgen für die Umsätze, nicht nur auf dem Marktplatz in Bialystok. Im vergangenen Jahr wurden auf den 15 führenden Märkten in Polen etwa 2,9 Milliarden Schilling umgesetzt. Das heißt, sieben Prozent des gesamten polnischen Exports. Auf dem größten Marktplatz in Polen, dem Jahrmarkt Europa auf dem Fußballstadion in Warschau, hat man noch bis vor einem Jahr etwa 750 Millionen Schilling umgesetzt. Die Marktverwaltung in Warschau will jetzt aus eigenen Mitteln die Einladungen aus dem Osten finanzieren. Vor allem viele Handwerker, die in der Heimarbeit verschiedene Produkte für die Osttouristen hergestellt haben, leiden jetzt unter den Absatzproblemen. So zum Beispiel haben sich die Bewohner der Ortschaft Laskarzew, etwa 30 Kilometer südlich von Warschau, auf Schuhe spezialisiert. Fast in jedem Haus befindet sich eine Schuhwerkstätte, insgesamt sind es etwa 1.400. Die Schuster aus Laskarzew konnten bisher ihre gesamte Produktion auf dem Warschauer Stadion loswerden, jetzt bleiben sie auf ihrer Ware sitzen, denn sie finden in Polen kaum Abnehmer. Polnische Bürger bevorzugen Qualitätsprodukte statt billiger Massenware.

Während seiner jüngsten Visite in Polen begrüßte der EU-Kommissar für Kontakte zu Ost- und Mitteleuropa, Hans Van den Broek, die Maßnahmen Polens zur Stärkung der Kontrollen an der Ostgrenze, die nach der Erweiterung der Europäischen Union deren Außengrenze bilden wird. Dadurch könne Polen die Angst der EU-Bürger vor einer Zunahme der organisierten Kriminalität durch illegale Einwanderung zerstreuen.

Schutz der Ostgrenze "Bis jetzt war die Ostgrenze sehr schwach bewacht", erklärt Oberst Stanislaw Firlej, Abteilungsleiter der Grenzschützer in Bialystok. "Vor der Wende haben praktisch nur die Russen diese Grenze kontrolliert. Jetzt wird die Grenze zu Polen nur von den Weißrussen im sowjetischen Stil bewacht. Das bedeutet, es gibt einen gepflügten Streifen mit Zaun und Lichtschranken. Die Ukrainer und Litauer bewachen die Grenze fast nicht. Und die polnischen Soldaten vom Grenzschutz haben noch immer eine mangelhafte Ausrüstung. Erst vor kurzem haben wir zur Sicherung der Grenze einige Hubschrauber bekommen. Bis jetzt war es öfters so, daß litauische Sportflugzeuge im Tiefflug die polnische Grenze passiert haben. Für die Schmuggler war das eine beliebte Methode. Aber unser Land ist nicht imstande, Modernisierungskosten selbst zu tragen."

Zwar hat Brüssel versprochen, etwa eine Milliarde ECU für die Grenzgebiete im Osten zur Verfügung zu stellen, doch bis jetzt hat sich in dieser Hinsicht nichts getan. "Die Polen haben bis jetzt keine Konzepte entwickelt, auch keinen Minister für diese Aufgaben berufen, wie ich es ihnen vorgeschlagen habe", erklärt der Botschafter der EU in Polen, Rolf Thiemans.

Verschärfte Einreisebestimmungen an der Ostgrenze haben auch zum Ziel, den Strom der illegalen Flüchtlinge, die über Polen nach Westeuropa gelangen wollen, einzudämmen. "Fast jede Woche finden wir hier eine Gruppe zwischen 20 und 60 Personen, meist Asiaten, die über die grüne Grenze nach Polen kommen wollen", so Oberst Firlej. "Dabei sind es Männer, Frauen und Kinder, die leicht angezogen, viele auch barfuß, unsere Grenze passieren. Diesen Menschen geben wir Bekleidungsstücke und eine warme Mahlzeit und übergeben sie dann an die Grenzschutzbehörden des jeweiligen Landes."

Zwickmühle Diejenigen Flüchtlinge, die an der polnisch-deutschen Grenze oder in Deutschland selbst erwischt werden, werden automatisch nach Polen abgeschoben. In Lesnowola, dem bereits aufgelassenen Ausbildungszentrum der polnischen Armee, wurde mit dem EU-Geld ein Deportationslager gebaut. Inmitten der Apfelgärten liegt das von den Flüchtlingen gefürchtete Lager. Hinter einem Blechzaun mit Stacheldraht und einem weiteren Zaun mit elektrischem Stacheldraht stehen einige Baracken, in denen etwa 100 Männer sowie 30 Frauen und Kinder untergebracht werden. Hier, Tag und Nacht von der polnischen Polizei überwacht, warten sie auf ihre Deportation, meist nach Weißrußland, egal ob sie aus Indien oder Armenien kommen. Eine Frau aus Armenien erzählt: "Seit zehn Jahren dauert der Krieg zwischen Armeniern und Aserbaidschan. Ich habe vier Söhne und eine Tochter. In Armenien gibt es kein Zukunft für uns, so habe ich mein Haus verkauft und Kredite aufgenommen, um auswandern zu können. An der deutsch-polnischen Grenze wurde unsere Gruppe von den polnischen Grenzschutzsoldaten entdeckt. Danach wurde ich mit meiner Tochter hierher gebracht und warte auf die Deportation. Doch nach Armenien kann ich nicht mehr zurück. Ich kann die Kredite nicht zurückzahlen, und wenn ich das nicht tue, werde ich von der Mafia umgebracht."

Die meisten Polen glauben jetzt, in eine Zwickmühle zu geraten. Einerseits wollen sie die rasche Anbindung an die westlichen Institutionen, auf der anderen Seite brauchen sie zu ihren Ostnachbarn immer noch gute Beziehungen. Der Weg in die Union wird noch Jahre dauern und viele Entbehrungen verlangen. Die ersten, die auf der Strecke bleiben, sind Kleinhändler an der Ostgrenze. Sie sind auch die größten Gegner der Europäischen Union. Aber auch rein menschlich gesehen ändert sich einiges an der Ostgrenze. Uneingeschränkte Familienbesuche in den Grenzregionen, wie es gleich nach der Wende war, werden jetzt nur den Reichen vorbehalten bleiben. Die Osterweiterung der Europäischen Union hat ihren Preis.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung