Paradies mit kleinen Fehlern

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Die Vision der Bürgergesellschaft setzt sehr hohe Erwartungen an Initiative, Engagement und Verantwortungsbereitschaft der Menschen. Ist sie zu idealistisch gedacht?

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Die Vision der Bürgergesellschaft setzt sehr hohe Erwartungen an Initiative, Engagement und Verantwortungsbereitschaft der Menschen. Ist sie zu idealistisch gedacht?

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Die Debatte. Christliche Soziallehre und Bürgergesellschaft Das Konzept, wie es im Leitantrag "Heimat Bürgergesellschaft" des ÖVP-Bundesparteitages im April 1999 formuliert wurde, ist eigentlich nicht mehr und nicht weniger als eine von Denkkategorien beziehungsweise der Terminologie des amerikanischen Neokonservatismus - das heißt, des Kommunitarismus und der Civil Society - beeinflußte Neuformulierung wesentlicher Grundsätze der Christlichen Soziallehre. Daher ist es ein gutes Konzept - könnte man sagen. Wenn man den Antrag allerdings genau (und nicht einmal zwischen den Zeilen) liest, können einem doch leichte Bedenken kommen.

Da ist als erstes schon der Begriff "Bürger" in Verbindung mit "Heimat". Man muß nicht Marxsche Ressentiments bemühen und dabei "bourgeois" in einem negativen Sinn mitdenken - dem könnte man sofort den positiv besetzten "citizen" entgegenhalten und auf historische und regionale Bedeutungsunterschiede verweisen. Fraglich ist aber, ob sich jeder wirklich mit diesem Begriff so identifizieren kann, wie es eine Volkspartei wohl wünscht. Ob es nicht Sozial- beziehungsweise Bildungsschichten gibt, die sich da nicht so ohne weiteres angesprochen fühlen (müssen). Und die enge Begriffsbindung von "Bürger" und "Heimat" signalisiert nicht unbedingt Offenheit denen gegenüber, die zwar bei uns leben, aber eine andere Heimat haben. "Ausländische Mitbürger" scheinen im ÖVP-Konzept nicht auf - auch wenn sie damit vielleicht ebenso gemeint sind wie Österreicher.

Sicherung der Kultur Skeptisch stimmt auch, daß das Konzept Bürgergesellschaft sehr eindeutig (nur?) "der Sicherung unseres kulturellen Erbes" dienen soll. Von der Auseinandersetzung mit und dem Zugehen auf andere Kulturtraditionen ist nicht die Rede.

Dabei hätte das in der Christlichen Soziallehre sehr wohl Platz - die allerdings im Mittelpunkt ihrer Grundwerte und Strukturprinzipien den Personbegriff sieht, das heißt, den Menschen im Mittelpunkt sozialer Kreise, geprägt von der Gemeinschaft und diese seinerseits prägend, und nicht den "Einzelnen", wie der Leitantrag besagt. Und es scheint auch höchst mißverständlich getextet, wenn man "Subsidiarität und Solidarität neu durchsetzen" will. Subsidiarität als Gliederungs-, Delegationssystem kann man ja vielleicht noch "verordnen" (wenngleich eine Trennung vom Freiheits- und Solidaritätsprinzip eigentlich nicht denkbar ist), aber Solidarität? Solidarität setzt ein Bewußtsein voraus, das man wecken und fördern kann, aber durchsetzen?

Umsetzen in konkrete Handlungen aber kann man es wohl. Wobei auch das Subsidiaritätprinzip mit Behutsamkeit interpretiert und angewandt werden sollte. Wenn es da heißt, daß dieser Grundsatz "verbürgt, daß nur Aufgaben, die der Einzelne, die Familie, die Gruppe nicht leisten kann, ... an Gemeinde, Land oder Bund abgegeben werden", stellt sich die Frage, ob nicht in manchen Fällen hier eine Überforderung mit bestimmten Gemeinschaftspflichten festgeschrieben wird beziehungsweise Mehrfachbelastung und Selbstausbeutung droht: und zwar vor allem den Frauen. Wahrscheinlich kann man ja Kindererziehung, Alten- und Krankenbetreuung, Haushalt und womöglich Beruf unter einen Hut bringen - aber um welchen Preis? Ob es sich dabei dann um die bestmögliche Leistungserbringung handelt (von der die Christliche Soziallehre ausgeht), sei dahingestellt.

Eher könnte sich da - obwohl der Leitantrag immer wieder betont, das staatliche Sozialsystem solle nicht verdrängt oder beeinträchtigt, sondern ergänzt, genutzt und effizienter gestaltet werden - der Verdacht aufdrängen, daß hier längst zumindest partiell und resp. optionell ausgelagerte Funktionen wieder in die Familie resp. die kleine Gemeinschaft rückgeführt werden sollen - der man sie ja ohnedies nie wirklich entzogen hat: es gab ja immer die Möglichkeit, sich für Eigenleistung trotz eines Entlastungsangebotes zu entscheiden. Niemand muß sein Kind zu einer Tagesmutter geben - wenn er es selber betreuen kann und will oder hilfreiche Großeltern zur Verfügung hat.

Gegen die Idee, Langzeitarbeitslosen durch Mitarbeit an teilgeförderten Projekten eine Wiedereingliederungschance zu geben, ist zunächst nichts einzuwenden. Kritisch wird es dann, wenn explizit Notstands- und Sozialhilfeempfänger und ihre auch derzeit gegebene Pflicht zur Arbeitsannahme bei sonstigen Strafabzügen angesprochen werden. Auch wenn von kommunalen resp. regionalen Tätigkeitspools die Rede ist, aus denen aktiv Tätigkeiten ausgewählt werden sollen, und obwohl nicht von "Zwangsarbeit" die Rede ist, die Assoziation drängt sich doch in gewissem Maße auf. Und dann stimmt bedenklich, daß es sich ja immerhin um gesellschaftlich außerordentlich relevante Arbeitsfelder handelt: Gesundheits-, Pflege-, Kultur-, Gemeinnützigkeitsbereich.

Dafür klingen nun die im Leitantrag verwendeten Begriffe "zweiter Arbeitsmarkt", "nicht (voll) marktfähige Arbeit" eher diskriminierend und abwertend, abgesehen davon, daß hier genau genommen höchst professionelle Leistung gefragt ist. Die sicher auch von reintegrierten ehedem Langzeitarbeitslosen erbracht werden kann, aber nur bei entsprechender (Re-)Qualifikation und zumindest anfangs unterstützt durch Maßnahmen wie Arbeitsassistenz und -begleitung. Das im Leitantrag "Heimat Bürgergesellschaft" sarkastisch kritisierte Modell "ein Verein, zwei hauptamtliche Mitarbeiter und Arbeit für sechs Langzeitarbeitslose - alles finanziert vom AMS" ist in bezug auf den Betreuungsschlüssel gar nicht unrealistisch.

Zumindest teilweise unrealistisch ist da schon eher die in der Präambel geäußerte Annahme, daß in einer aktiven Bürgergesellschaft, in der alle Bürger aufgerufen sind, in privaten Einrichtungen wie Vereinen und freien Bürgerinitiativen ihren Lebensraum zu gestalten, quasi automatisch "aus einem Nebeneinander oder Gegeneinander ein solidarisches Füreinander" werden muß. Die Erfahrung mit ( im weiteren Sinn politischen) Bürgerinitiativen hat bisher gezeigt, daß es bei dieser Art von Engagement (gerade weil ehrenamtlich und damit schwer steuer- und kalkulierbar) nicht selten zu Einzel- und Gruppenegoismus und heftigen beziehungsweise langanhaltenden Konflikten kommen kann. Und ob anstelle von "Wärme" für die Unterprivilegierten und Schwachen nicht dort und da Schulmeisterei und Entmündigung zutage tritt, sei dahingestellt. Das Einfühlungsvermögen etablierter und selbstbewußter Bürger für die Probleme sozialer Randgruppen darf zumindest ein wenig in Zweifel gezogen werden. Dies umso mehr, wenn zu den Bürgeragenden auch die "Verstärkung der örtlichen Sicherheit durch Community Policing" gezählt wird. Natürlich ist es gut und richtig, auf registrierbare Straftaten mit dem Motto "Hinschauen statt wegschauen" zu reagieren.

Spitzel & Vernaderer Ob aber im Rahmen der vorgeschlagenen Sicherheitsbeiräte, die die Behörden resp. die Exekutive "auf kriminalitätsfördernde Umstände hinweisen und Sicherheitsmaßnahmen vorschlagen" sollen, nicht die Gefahr von Spitzeltum und Vernaderei auftauchen könnte, sei dahingestellt.

Die Autoren der, wie sie selbst sagen, gesellschaftspolitischen Vision Bürgergesellschaft gehen von einem ungeheuer idealistischen Menschen- und Gesellschaftsbild aus - mit weit höheren Erwartungen an Initiative, Engagement und Verantwortungsbereitschaft, als sie die Christliche Soziallehre formuliert - die ihren Weg zwischen Sozialoptimismus und Sozialpessimismus immer neu sucht. Sie geht weder von einem vollkommenen Menschen noch einer vollkommenen Gesellschaftsordnung aus und stellt sich der jeweils aktuellen Fehlentwicklung beziehungsweise "Sozialen Frage".

Die Grundidee, Gesellschaftsstrukturen mit starker Individualisierungstendenz, in denen soziale Risken wie Chancen quasi privatisiert oder aber an den Staat delegiert werden, ein Gemeinschaftsmodell gegenüberzustellen, ist absolut positiv zu bewerten: soferne man sich der Grenzen eines solchen Denkmodells ebenso bewußt ist wie der Bedrohung durch die Absolutsetzung von Prinzipien.

Aber vielleicht ist es ja gar nicht der große ideologische Entwurf, mit dem man sich bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Bürgergesellschaft befassen soll. Im recht unspektakulären und politisch kaum vermarkteten operativen Teil, der sich mit der Bedeutung von Non-Profit-Organisationen als Bindeglied zwischen Markt und Staat beschäftigt, finden sich außerordentlich wichtige und brauchbare praktische Ansätze, etwa im Hinblick auf Definition und Abgrenzung von NPOs zu anderen Institutionen, zur ihrer rechtlichen Verankerung und steuerlichen Behandlung.

Wenn die Autoren von "Heimat Bürgergesellschaft" diesen Faden weiter aufnehmen, ist ein gesellschafts- und sozialpolitischer Akzent gesetzt, der den Menschen - oder soll sein: den Mitbürgern dieses Landes - dient.

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