Demokratie im Islam: Parlament & Schura

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Die politische System der Demokratie resultiert wesentlich auch aus der geschichtlichen Entwicklung Europas. Das bedeutet aber keineswegs, dass der Islam seinem Wesen nach demokratiefeindlich wäre.

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Die politische System der Demokratie resultiert wesentlich auch aus der geschichtlichen Entwicklung Europas. Das bedeutet aber keineswegs, dass der Islam seinem Wesen nach demokratiefeindlich wäre.

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„Als ich das erste Mal diese Versammlung sah, erinnerte sie mich an zwei Schwärme von Papageien, die einander auf zwei Mango-Bäumen gegenübersitzen und sich gegenseitig auszanken“. Mit diesen wenig respektvollen Worten charakterisierte der indische Muslim persisch-türkischer Herkunft Abu Talib Khan das englische Unterhaus, das er im ausgehenden 18. Jahrhundert auf einer Europareise kennengelernt hatte. Trotz dieses ersten Eindrucks stand er demokratischen Institutionen positiv gegenüber. Er meinte, dass Parlamente in bestimmten Belangen wichtige politische Leistungen erbringen. Die Christen könnten durch sie – anders als die Muslime und Juden, die ein göttliches Gesetz betreffend weltliche Angelegenheiten erhalten haben – „solche Regeln nach den Bedürfnissen der Zeit machen“.

Drei Sichtweisen

Drei sehr unterschiedliche Sichtweisen werden in diesem Bericht fassbar, die sich verallgemeinern lassen. Zunächst Fremdheit. Für muslimische Beobachter war damals kaum etwas anderes so unverständlich wie gewählte Volksvertretungen. Und manches an solchen Verständnisproblemen hat sich noch länger erhalten. Dann Nützlichkeit. Im Lauf des 19. Jahrhunderts sahen politische Reformbewegungen im Nahen Osten immer stärker die Notwendigkeit, im Interesse des gesellschaftlichen Fortschritts Elemente einer liberalen Demokratie wie gewählte Parlamente, geschriebene Verfassung, Rechtsgarantien, Parteienvielfalt und Pressefreiheit zu übernehmen. Schließlich die Vereinbarkeit mit der Religion. Sie hatte im 19. Jahrhundert noch keine besondere Brisanz. Man sah das Problem möglicher Gegensätze zwischen göttlichem Gesetz und parlamentarischer Gesetzgebung, hielt es aber im Allgemeinen für lösbar. Die Befürworter einer konstitutionellen Neuordnung beriefen sich in ihrer Argumentation für die Schaffung einer Legislative auf das im Koran verankerte Schura-Prinzip, den Grundsatz, sich untereinander zu beraten. Viele parlamentarische Einrichtungen der islamischen Welt wurden in der Folgezeit als „Schura“ bezeichnet. In der Begrifflichkeit war so ein Zusammenhang zur islamischen Frühzeit hergestellt. Der Sache nach handelte es sich jedoch um europäischen Import.

Unterschiedliche Entwicklungen

Die beiden Stichworte „Parlament“ und „Schura“ scheinen geeignet, um sich Unterschiede in den politischen Strukturen Europas und der islamischen Welt in Langzeitperspektive bewusst zu machen. Über Institutionen mit dieser Bezeichnung führen sie zu deren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. In solchen Zusammenhängen wird nachvollziehbar, warum für Muslime die gewählten Volksvertretungen Europas so unverständlich blieben. Ein Jahrtausend völlig unterschiedlicher Entwicklung stellt den Hintergrund dar. Parlamentarische Einrichtungen gehen in Europa auf die Reichs- und Landstände zurück, diese wiederum auf das Lehenswesen als eine spezifische Form der Wehrverfassung. Lehensleute waren ihrem Lehensherren zu „Rat und Hilfe“ verpflichtet. Die Ratsversammlung der ad personam politisch berechtigten Lehensleute stellt die Urform der Ständeversammlung dar, wie sie etwa in England bis heute im „House of Lords“ fortlebt. Eine zweite Form der politischen Mitsprache tritt seit dem Hochmittelalter hinzu, nämlich die von gewählten Vertretern adeliger, bürgerlicher bzw. bäuerlicher Gemeinden. In England gehört das „House of Commons“ zu diesem Typ. Ihm liegt das Repräsentationsprinzip zugrunde. Über verschiedene Zwischenstufen führt der Weg von der Vertretung von Gemeinden zum allgemeinen Wahlrecht der Moderne. Dieser höchst komplexe Entwicklungsprozess vollzieht sich in Europa mit vielfältigen Differenzierungen, aber auch Rückschlägen, die bereits gewonnene politische Partizipation wieder aufheben. Parallelen zu solchen Strukturen der Reichsverfassungen finden sich in Europa in den Kirchenverfassungen. Synoden und Konzilien reichen in der Geschichte der christlichen Kirchen weit zurück. Sie haben weltlichen Ordnungen vielfach als Vorbild gedient. Das gilt für die reformatorischen Glaubensgemeinschaften auch noch in nachmittelalterlicher Zeit – etwa in der Ausbildung demokratischer Strukturen in den USA.

Lehenswesen vs. Wehrverfassung

Wenn im islamischen Kulturraum solche weit zurückreichende Entwicklungsstränge demokratischer Einrichtungen fehlen, so keineswegs deshalb, weil der Islam seinem Wesen nach demokratiefeindlich wäre. Die entscheidenden Momente divergierender Entwicklungen liegen im außerreligiösen Bereich. Während im Karolingerreich das Lehenswesen entstand, schuf man im Kalifenreich der Abbasiden eine ganz andere Wehrverfassung, nämlich das Mamluken-System – treffend als „slaves on horses“ charakterisiert. Militärsklaven waren als Träger politischer Partizipation wenig geeignet. Nirgendwo im islamischen Raum wurden sie zu Ratsversammlungen zusammengerufen. Das Prinzip der Repräsentation von Gemeinden hat sich im islamischen Raum überhaupt nicht entwickelt. Damit fehlte die entscheidende Voraussetzung für die Ausbildung einer repräsentativen Demokratie. Solche für die Entwicklung politischer Partizipation relevante Divergenzen nahmen in der Neuzeit weiter zu.

Das Schura-Prinzip, wie es im Koran formuliert ist, geht wahrscheinlich schon auf vorislamische Traditionen und Gepflogenheiten zurück. Für Stammesverfassungen sind Ratsversammlungen charakteristisch. Mit der raschen Expansion des Kalifenreiches gerieten solche eher für kleinräumige Einheiten passende Formen der politischen Beteiligung unter Anpassungsdruck. Eine wesentliche Rolle haben Schura-Versammlungen in der islamischen Frühzeit vor allem bei der Kalifenbestellung gespielt. Mit der Aufgabe des Wahlprinzips und dem Übergang zur dynastischen Thronfolge verloren sie diesbezüglich an Bedeutung – sieht man von Randgruppen wie den Ibaditen ab, die weiterhin daran festhielten. Als kontinuierlich wirkende Institution mit klar vorgegebenen Aufgaben ist der Schura-Rat in der islamischen Frühzeit nicht fassbar. Wenn Autoren der Gegenwart wie der ägyptische Publizist Hamid Suleiman unter Berufung auf das Schura-Prinzip die Meinung vertreten, „der Islam hat die Demokratie erfunden“, so ist diese These verfassungsgeschichtlich nicht haltbar. Zweifellos aber lassen sich parlamentarische Institutionen der jüngeren Geschichte und der Gegenwart durch dieses Prinzip religiös legitimieren. Der Rückgriff auf die Anfänge bietet so Perspektiven für die Gestaltung der Zukunft.

Es sind tiefgreifende Unterschiede in den historisch gewachsenen Rahmenbedingungen von politischer Partizipation zwischen Europa und dem islamischen Raum, die bis in die Gegenwart nachwirken. Demokratisierungsbestrebungen sind hier dementsprechend schwierig und erfordern Zeit. Sie werden wohl dann besser gelingen, wenn sie autochthone Kulturtraditionen mit einbeziehen. Dem Schura-Prinzip als allgemeiner Empfehlung zur Beratung kann dabei wesentliche Bedeutung zu kommen. Es bezieht sich ja keineswegs nur auf die Staatsführung. Vielmehr kann es als eine Aufforderung zur Demokratisierung aller gesellschaftlichen Teilbereiche verstanden werden. Und Demokratie als Staatsform ist nur dann funktionsfähig, wenn sie in der Zivilgesellschaft breit verankert ist.

Sicher haben die Erfahrungen der islamischen Länder mit kolonialistischen und imperialistischen Interventionen für die Akzeptanz westlicher Demokratiemodelle nicht gerade den Boden bereitet. Anders formuliert: Manche theoretischen Positionen zum Verhältnis von Islam und Demokratie sind aus weltpolitischen Konstellationen der jüngeren Geschichte und der Gegenwart zu verstehen. Die Vereinbarkeitsfrage hat sich dadurch wohl verschärft. Die Historisierung dieses Diskurses kann weiterhelfen. Was in der Vergangenheit bereits offener gesehen wurde, ist wohl auch in der Gegenwart der Diskussion zugänglich.

Prozesse der Angleichung

Weltweit lassen sich Tendenzen zu verstärkter Demokratisierung beobachten. Menschen wollen mehr politische Partizipation – und auch die äußeren Umstände, sie zu realisieren, nehmen zu. Man denke nur an die Entwicklungen im Bereich der Massenmedien. Der islamische Raum war diesbezüglich Jahrhunderte hindurch gegenüber Europa im Rückstand. Heute verlieren diese Unterschiede an Bedeutung. Tendenzen der Globalisierung machen es wahrscheinlich, dass es zu Angleichungsprozessen mit entsprechenden Folgen für die Demokratieentwicklung kommt.

Millionen von Muslimen leben heute in europäischen Ländern mit demokratischen Verfassungen. Dieses politische System ist ihnen wohl bei Weitem nicht mehr so fremd wie Abu Talib Khan vor zwei Jahrhunderten. Mit ihm sind sie wohl mehrheitlich von der Nützlichkeit dieses Systems überzeugt. Und dass die Gesetze, nach denen sie im Alltag leben, in Parlamenten entstanden sind, wird in der Regel von ihnen nicht als Gegensatz zu ihrer Religion empfunden.

* Der Autor ist em. Ordinarius für Sozialgeschichte an der Uni Wien

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