Pensionsreform durch Gesellschaftsreform

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Die jüngsten Entscheidungen in den Niederlanden und in der Bundesrepublik sollten der Pensionsdebatte neue Denkanstöße geben, meint der Autor des folgenden Beitrages.

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Die jüngsten Entscheidungen in den Niederlanden und in der Bundesrepublik sollten der Pensionsdebatte neue Denkanstöße geben, meint der Autor des folgenden Beitrages.

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Das holländische Euthanasie-Gesetz und der familienfreundliche Spruch deutscher Höchstrichter (die furche berichtete mehrmals) mögen zwar als extreme Gegensätze erscheinen und von höchst unterschiedlichem Geist getragen sein. Dennoch sind sie Ausfluss desselben Problems, nämlich der (Un-)Finanzierbarkeit derzeitiger Sozialsysteme. Man sollte sich nichts vormachen: Selbst hinter "humanitären" Euthanasie-Gedanken steckt immer auch die Ökonomie. Schlussfolgerungen und Begründungen der Richter in Karlsruhe klingen da wesentlich besser, wenngleich auch sie nicht deutlich genug sind: Denn letztlich geht es nicht um "Gerechtigkeit" oder um monatliche Überweisungen, sondern um Altersversorgung, also um nachhaltige Abdeckung materieller und immaterieller Bedürfnisse. Damit die Stimmbürger richtige von falschen Ansätzen unterscheiden können, müssen ihnen Entwicklungsgeschichte und sozio-ökonomische Zusammenhänge veranschaulicht werden: Die ursprüngliche Form der Altersversorgung - und in vielen Gesellschaften bis heute die einzige oder die wichtigste - ist jene im Verband der (Groß-)Familie. Sie funktioniert, wenn zwei unabdingbare Voraussetzungen erfüllt sind: Nachwuchs und Gruppenzusammenhalt. Die volle Integration der Alten gewährleistet obendrein die Weitergabe von Wissen und Lebensregeln, was umgekehrt wieder den Zusammenhalt fördert.

Die Sozialversicherung entstand als notwendige Reaktion auf die gesellschaftlichen Verheerungen durch den Manchester-Liberalismus. Bei ihrer Einführung waren aber die Grundvoraussetzungen Nachwuchs und Gruppenzusammenhalt auch auf der höheren Ebene (Staatsvolk alias Versichertengemeinschaft) noch eindeutig vorhanden und ermöglichten es daher, Pensionssysteme im Umlageverfahren aufzubauen. Vorteil der erweiterten Risikogemeinschaft ist, dass individuelle Risiken besser ausgeglichen werden. Als Nachteil stellt sich aber heraus, das die anonyme (das heißt beziehungslose) Gemeinschaft Egoismus und Missbrauch begünstigt: Für das Individuum lohnt es sich, auf Nachwuchs zu verzichten und die Altenbetreuung zu delegieren. Die "ausgelagerten" Alten werden ihrer natürlichen Funktionen beraubt, und der Gruppenzusammenhalt schwindet. Soziale Sicherheit in der heutigen Form untergräbt somit ihre eigenen Grundlagen.

Für Verantwortungsbewusste scheint es einen Ausweg zu geben: Eigenvorsorge. Tatsächlich kann Vermögensanhäufung - sei es individuell, sei es kollektiv in einer nach dem Kapitaldeckungsverfahren organisierten privaten Rentenversicherung - nie schaden. Nützen kann sie aber nur, wenn der Fruchtgenuss abgesichert ist: Es muss also künftige Generationen geben, die mit den vorigen solidarisch sind, denn nur so lässt sich das durch Konsumverzicht akkumulierte Kapital absichern und wieder in Güter und Dienstleistungen rückverwandeln. Ist der tägliche Bedarf nicht durch ein entsprechendes Angebot gedeckt, kommt es zur Inflation, und das Kapital wird vorzeitig aufzehrt. Kapitaldeckungsverfahren und Umlageverfahren unterscheiden sich also nur durch zeitliche Verschiebung des Konsums. Wenn demographische Fehlentwicklungen das Umlageverfahren scheitern lassen, muss auch das Kapitaldeckungsverfahren scheitern, denn Eigenvorsorge ändert nichts an der Bevölkerungsstruktur.

Zurück zu den Wurzeln Ein anderer propagierter Ansatz heißt Zuwanderung. Aber lässt sich die wegen des Geburtenrückgangs bedrohte Altersversorgung dadurch retten? Hier ist festzuhalten, dass Zuwanderer ebenfalls wieder Pensionsansprüche erwerben - völlig zu Recht. Nur haben heute diejenigen, die aus verwandten Kulturkreisen kommen, eine Reproduktionsrate, die um nichts besser ist als die hiesige. Deshalb müsssten die von ihnen erworbenen Pensionsansprüche durch weitere, sogar exponentiell steigende Zuwanderung abgedeckt werden.

Zuwanderer aus fremden Kulturkreisen, wo dank tiefverwurzelter Traditionen die Altersversorgung auf Nachwuchs und Familienzusammenhalt beruht, bringen ebenso wenig eine Lösung: Sollten wenige kommen, hätte das kaum Auswirkungen auf die Altersstruktur. Sollten aber so viele kommen, dass die Alterspyramide wieder stimmt, dann werden sie eines Tages - ganz demokratisch - die hiesigen Gesetze ihren Vorstellungen anpassen: Denn warum sollten sie, die genügend eigene Kinder haben und sich um die eigenen Alten kümmern, auch noch "Fremde" erhalten?

Es führt also kein Weg an den beiden Grundvoraussetzungen vorbei, denn eine Gesellschaft, die bei Nachwuchs und/oder Gruppenzusammenhalt versagt, sabotiert sogar die Eigenvorsorge. Unabhängig von allen direkten Maßnahmen zur Geburtenförderung, die quasi als "Kostenersatz" konzipiert sind, muss es sich daher für die Alten lohnen, Kinder gezeugt, geboren und zu verantwortungsbewussten Bürgern erzogen zu haben - genau wie vor Erfindung der Sozialversicherung. Nur dann wird bei den Zeugungs- und Gebärfähigen wieder jenes Verhalten einkehren, das den Fortbestand der Gemeinschaft und die Altersversorgung sichert!

Wie aber können in einer anonymen Risikogemeinschaft Egoismus und Missbrauch eingedämmt werden? Die Privatversicherung verlässt sich hier auf zwei bewusstseinsbildende Maßnahmen, nämlich auf eine möglichst risikoadäquate Prämienbemessung (zum Beispiel das "Bonus/Malus-System") und auf Schadensbeteiligung ("Selbstbehalt"). Auch in allen Zweigen der Pflichtversicherung sollten daher entsprechende Bestimmungen sicherstellen, dass es für den Versicherten nachteilig ist, gegen die Interessen der Solidargemeinschaft zu verstoßen, und vorteilhaft, in ihrem Sinne zu handeln.

Bei der Rentenversicherung lässt sich das umsetzen, indem die Pensionshöhe durch zwei Komponenten bestimmt wird: Die Basispension ist - wie bisher - aus dem zu errechnen, was die Versicherten beziehungsweise deren Ehepartner im Laufe des Lebens einzahlen. Darüber hinaus ist ein Familienzuschlag einzuführen, der sich aus dem errechnet, was die im Inland wohnenden Nachkommen beziehungsweise deren Ehepartner laufend zum Sozialprodukt beitragen. Einfach nur Kinder in die Welt zu setzen, ist also keinen Bonus wert, vielmehr geht es auch darum, sie auf Leistung und Loyalität hin zu erziehen. Wenn Eltern diesen Bonus lukrieren wollen, werden sie sich zwangsläufig viel mehr als bisher um die Beseitigung der diversen Missstände im schulischen und sonstigen Umfeld ihrer Kinder kümmern.

Der Familienzuschlag ist - dem Wesen der Sozialversicherung entsprechend - betrags- und prozentmäßig nach oben zu deckeln und alljährlich aus dem deklarierten Bruttoeinkommen der Nachkommenschaft neu zu errechnen. Da alle erforderlichen Daten bei Finanzämtern und Sozialversicherern bereits elektronisch erfasst sind, hielte sich der administrative Mehraufwand in Grenzen und würde durch den Nutzen - "zukünftige Steuer- und Beitragszahler" - um ein Vielfaches wettgemacht.

In der Umstellungsphase sind zunächst alle Pensionen einzufrieren - als künftige Basispensionen. Die Familienzuschläge sind schrittweise aufzubauen, bis das angestrebte Niveau erreicht ist, und erst dann kann es wieder allgemeine Anpassungen geben. Selbst bei einer langen Umstellungsphase würde die bewusstseinsbildende Wirkung sofort mit Gesetzwerdung eintreten. Und da in Summe die Rentenzahlungen weniger schnell steigen würden, ergäbe sich eine von Jahr zu Jahr größere Entlastung des Systems.

Mehr Erben denn je Es gibt weitere fiskalische Aspekte: Oft ist zu hören, dass unser überzogenes Sozialsystem den Nachfahren eine Hypothek aufbürdet. Stimmt. Doch man erbt auch mehr als je zuvor! Ungerecht ist nur die Umverteilung zulasten der Kinderreichen: Denn Verlassenschaften stammen heute zu einem großen Teil aus den Ersparnissen von Pensionisten. Ein Einzelkind mit vielen kinderlosen Onkeln und Tanten erbt also viel, in kinderreichen Familien hingegen erbt man wenig, obwohl man die Pensionen der Kinderlosen mitfinanziert! Als weitere bewusstseinsbildende Maßnahme wäre daher eine kumulative Erbschaftssteuer zu fordern, die nur für das gilt, was nicht in direkter Linie vererbt oder geschenkt wird.

Wenn wir aber davon ausgehen, dass die Pensionen teilweise bei den Erben landen, dann sind sie in Summe "zu hoch" gewesen. Wenn wir weiters in Betracht ziehen, dass die Pensionen durch Pflichtbeiträge der Arbeitgeber mitfinanziert werden, dann sind auch diese Pflichtbeiträge zu hoch. Es wäre daher nur konsequent, die Erbschaftssteuer in den Kreislauf zurückfließen zu lassen und für die Altersversorgung heranzuziehen. Konkret hieße das: Zweckbindung eines Teiles der Erbschaftssteuer zur Reduktion der ominösen Lohnnebenkosten.

Abschließend sei betont, dass finanzielle "Infusionen" zwar unerlässlich sind, um die ausgehungerte Ethik wieder hochzupäppeln. Doch Nachwuchs und Gruppenzusammenhalt werden durch vielerlei Fehlentwicklungen bedroht, die allesamt auf kollektive Euthanasie, auf den "glücklichen" Tod der Gesellschaft hinauslaufen.

Der Autor befasst sich als Publizist mit wirtschafts- und gesellschafts-politischen Fragen.

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