Pflichten, Rechte und verordnete Freiheit

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Die neuen Werte- und Orientierungskurse für Flüchtlinge polarisieren bei den Betroffenen ebenso wie bei den Österreichern. Bieten die Pflicht-Kurse eine Hilfestellung für den Alltag im neuen Land - oder will man Flüchtlinge rot-weiß-rot umfärben? Ein Lokalaugenschein.

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Die neuen Werte- und Orientierungskurse für Flüchtlinge polarisieren bei den Betroffenen ebenso wie bei den Österreichern. Bieten die Pflicht-Kurse eine Hilfestellung für den Alltag im neuen Land - oder will man Flüchtlinge rot-weiß-rot umfärben? Ein Lokalaugenschein.

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Es herrscht hektische Betriebsamkeit in den Gängen des Integrationszentrums im dritten Wiener Bezirk. Gleich beginnen die morgendlichen Wertekurse für anerkannte Flüchtlinge. Der Vorraum ist gefüllt mit Kinderwägen. Nebenan erzählt die Trainerin von ihrer eigenen Familiengeschichte, vom Kulturen- und Sprachen-Mix der Habsburger-Monarchie, als ein junger Mann schüchtern die Tür öffnet. Kursleiterin Ursula Sagmeister bittet ihn freundlich herein, fragt aber nach dem Grund für seine Verspätung. Er hat die richtige Tür nicht gefunden. "In Österreich ist Pünktlichkeit ganz wichtig", erklärt sie. "Bei offiziellen Terminen sollte man auf jeden Fall einen Zeitpuffer von 10 Minuten einplanen, um rechtzeitig den Raum zu finden."

Mit einem ermutigenden Lächeln fügt sie hinzu: "Sie wissen das ja eh, aber bitte erzählen Sie es weiter!" Ein Herr mit ägyptischen Wurzeln dolmetscht die deutsch-arabische Konversation. Dann betont Sagmeister, dass die Kurse - wenn auch für die Immigranten kostenlos - von Steuerzahlern finanziert werden und es das Ziel sein müsse, selbst zum Steuerzahler zu werden. "Auch die Arbeitssuche ist eine Arbeit, an der man dranbleiben sollte."

Kritische Fragen erwünscht

Es ist der zweite Kurstag für die achtköpfige Gruppe, die im Sesselkreis zusammensitzt. Unter den Teilnehmern befinden sich vor allem Syrer, darunter zwei Frauen, beide unverschleiert. Alle Kurs-Teilnehmer haben Asyl erhalten und müssen nun den achtstündigen Werte- und Orientierungskurs besuchen, wie es Integrationsminister Sebastian Kurz (ÖVP) kürzlich durchgesetzt hat. Sollte jemand nicht dazu bereit sein, können Behörden Sozialleistungen bis zur Hälfte streichen.

Eine Dame mittleren Alters hebt die Hand und fragt die Kursleiterin, ob der heutige Kurs denn so designt ist, dass die Presse einen guten Eindruck bekommt - oder dass auch die Teilnehmer etwas davon haben. "Bilden Sie sich bitte Ihre eigene Meinung, wir machen am Ende eine große Feedback-Runde", fordert die Trainerin sie auf. Einer der Kursteilnehmer nickt ganz begeistert, ein anderer sitzt mit verschränkten Armen und skeptischer Miene da.

Dass die Wertekurse mit insgesamt acht Stunden kurz geraten sind, räumt sogar Heinz Fassmann ein, der als Experte das Integrationsministerium berät. Von vielen Integrationspraktikern kommt die Kritik, dass sich Werte nicht in einem zweitägigen Theorie-Kurs verordnen lassen könnten. "Werte muss man vorgelebt bekommen, das funktioniert nur durch persönliche Beziehung", ist sich Fortbildungsexpertin Marion Kremla von der Asylkoordination sicher. Statt eines expliziten Wertekurses würde sie intensivere Deutschkurse mit integrierten Österreich-Modulen für sinnvoller halten. Denn die Deutschkurse sind gefragt, die Wartelisten teils elendslang, während ein Zwang zu Wertekursen naturgemäß Widerstand hervorrufen kann.

Am gestrigen Kurstag hat die Gruppe eine Dokumentation über den Holocaust gesehen und vom Verbotsgesetz in Österreich erfahren. Heute steht das Thema Bildung am Programm. Sagmeister betont die wichtige Rolle der Eltern: "Sie sind gesetzlich verpflichtet, zum Elternsprechtag zu gehen und mit den Lehrern zu kommunizieren."

Dann lobt sie Kursteilnehmer Mohmad, dessen Kinder bereits an der Schulexkursion teilnehmen durften. Das sei für die Jugendlichen das Lustigste im ganzen Schuljahr. Eine Kursteilnehmerin fragt spaßhalber: "Warum gibt es nicht auch für Erwachsene solche Exkursionen?" Sagmeister nimmt den Scherz auf und leitet zum Thema Turnunterricht über: "Turnen ist genauso wichtig wie Mathematik. Die Kinder lernen auch schwimmen im Turnunterricht, da darf man nicht fehlen."- Kein Widerspruch.

Meinungsfreiheit und Karikaturen

Kontrovers diskutiert wird erst, als das Thema Religions- und Meinungsfreiheit zur Sprache kommt. Pressefreiheit kennen viele der Kursteilnehmer nicht. "Man sollte auch in Österreich kritisch Medien konsumieren, weil hier verschiedene Zeitungen auf unterschiedliche Weise berichten", sagt Sagmeister. Die Trainerin erklärt, dass sich Karikaturisten über alles lustig machen dürfen. "Über Politiker, Zuwanderer, Religionen." Sogleich entspinnt sich eine Debatte über die Mohammed-Karikaturen. "Das bringt nur böses Blut, so was sollte man nicht machen", meint eine Teilnehmerin. "Aber es zu verbieten wäre der erste Schritt in Richtung Zensur", wendet die Trainerin ein. Dann erzählt sie von der Angst vor dem islamistischen Terror in Europa. Deswegen habe jeder und jede einzelne die Aufgabe und die Chance, dieses negative Bild geradezurücken.

"Das ist das Schizophrene an Europa: Sie reden immer vom Individuum, von der Freiheit, aber werfen alle Flüchtlinge in einen Topf", sagt ein junger Mann namens Husin Aibu, der in Syrien als Zahnarzt praktiziert hat. "Wenn hundert Leute nach Österreich kommen, von denen 90 gute Menschen sind und zehn Probleme machen, dann wird das negative Bild auf alle Immigranten übertragen." Auch den heutigen Kurs betrachtet er mit gemischten Gefühlen. Es sei schon sinnvoll, all diese Dinge über Österreich zu erfahren, aber wenn er Probleme hätte, würde ihm die Theorie auch nicht weiterhelfen. Er will der österreichischen Gesellschaft sobald wie möglich etwas zurückgeben, "aber dafür muss ich erst Deutsch lernen, meine Zeugnisse müssen anerkannt werden." Erst dann darf sich Aibu in seiner neuen Heimat "Steuerzahler" nennen.

Einen Dialog auf Augenhöhe vermisst Fortbildungsexpertin Kremla von der Asylkoordination in den Kursen, die sie für "rückschrittlich im Sinne von missionarisch" hält: "Ich kann nicht Werte wie Offenheit und Respekt vorleben, wenn ich vermittle: Deine Familienvorstellungen sind nichts wert."

Gerade bei den Frauen würde Kremla eher auf die bewährten "Mama lernt Deutsch"-Kurse setzen. Der Austausch zwischen Österreichern und Flüchtlingen könne am besten durch Patenprojekte gestärkt werden. "Anfangs ist es oft nur ein Staunen und vorsichtiges Herantasten, und irgendwann kommen die Leute schon ins Diskutieren über ihre Wertvorstellungen." Denn ein wirklicher Austausch bedeute auch, sich sagen zu lassen, was in Österreich von außen betrachtet kritikwürdig erscheint. Zum Beispiel, warum hier im Gegensatz zur arabischen Kultur so viele alte Menschen einsam sind.

Von negativen Seiten wie diesen ist im Kurs nichts zu hören. Im Zuge des Vormittages rattert es nur so vor Beispielen aus dem Alltag: Dass Österreicher gerne abends ein Glas Wein trinken, dass sich viele ehrenamtlich engagieren, dass man mit einer Erkältung nicht gleich in die Ambulanz, sondern zum Hausarzt gehen soll, dass der Müll getrennt werden muss. In einem kleinen Film zum Thema Beziehungen wird gezeigt, dass sich Frauen in Österreich ihren Partner selbst aussuchen, dass Pärchen öffentlich Händchen halten dürfen und auch Homosexualität erlaubt ist. Sagmeister geht es vor allem darum, das Selbstbewusstsein der Neuankömmlinge zu stärken: "Ich will sie dazu motivieren, raus zu gehen, möglichst oft Deutsch zu üben, nach dem Weg zu fragen, die Nachbarn einzuladen."

Minirock bedeutet nicht Männersuche

Für viele Teilnehmer sei es eine sehr positive Neuigkeit, dass es hier keine Folter und keine Todesstrafe gibt und die Polizei nicht willkürlich handeln darf. Sagmeister arbeitet auch mit Fotos: "Wir zeigen Bilder von Gewalt in der Familie und stellen klar, dass jegliche Gewalt verboten ist und sich da Externe einmischen müssen." Auch werden Bilder von sommerlich gekleideten Frauen mit Spaghettiträger-Leiberln und Miniröcken gezeigt. "Ich sage dann, dass das bei uns normal ist und sich auch katholische Mädchen so anziehen. Dass es nicht bedeutet, die Frau wäre nichts wert oder auf Männersuche."

So anders seien die syrischen Werte doch vor dem Krieg gar nicht gewesen als die österreichischen, wendet Kursteilnehmerin Sanaa Hawijak ein. Die sorgfältig geschminkte Frau mit den blonden Haaren und dem bunten Halstuch hat in Syrien als Visagistin für das Fernsehen gearbeitet. Sie hofft, dass auch in der arabischen Welt einmal soziale Verhältnisse wie in Österreich herrschen werden. Auch Mohammad, der in Syrien als Gemüsehändler gearbeitet hat, lobt den hohen Stellenwert des Individuums in Österreich. "Unser ganzes Leben hatten wir Angst vor der Regierung, hatten wir das Gefühl, nichts wert zu sein. Hier können wir endlich unsere Meinung sagen", sagt er. Den Kurs finden die beiden im Gegensatz zu Landsmann Aibu positiv. Wenn es nach ihnen ginge, könnte er sogar intensiver sein: "Über österreichische Gesetze und Verhaltensnormen zu lernen, ist ganz wichtig - in Wirklichkeit ist das doch für beide Seiten ein Schutz."

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