Flimmernde Aussichten
FOKUSPhilosoph Peter Strasser zu Hass-Botschaften: "Ein Flächenbrand der Worte"
Geht unsere Gesellschaft am Verlust der Wahrheit zugrunde? Manchmal scheint es, als verglühe sie in überhitzten Debatten und rhetorischen Kriegen.
Geht unsere Gesellschaft am Verlust der Wahrheit zugrunde? Manchmal scheint es, als verglühe sie in überhitzten Debatten und rhetorischen Kriegen.
Kürzlich veranstaltete das Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin eine Tagung zum Thema „Erhitzte Gemüter, Habitus der Kälte. Zur Ambivalenz affektiver Rhetoriken.“ So reden Akademiker. Immerhin begreift der Laie, dass es um den Dampfdruckkessel geht, der in den Sozialen Medien und der politischen Arena durch Polemik, Diffamierung, Fake News und Mobbing entsteht.
Irgendwann explodiert dieses Gemisch aus Hetze und Hass, aus Unverstand und Neid, bis keinerlei Vernunftappell den Amoklauf der Affekte zu stoppen vermag. Solchen Erhitzungs-Phänomenen begegnet die besonnene Öffentlichkeit mit der Aufforderung, mehr Sachverstand an strittige Themen heranzutragen, um derart für eine Abkühlung des sozialen Streitklimas zu sorgen.
Der Sozialphilosoph Jürgen Habermas prägte die Formel vom „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“. Doch gerade darin wittert die erkenntnisskeptische Fraktion der Postmoderne einen geschönten Rückgriff auf den absoluten Wahrheitsbegriff und sein totalitäres Wirklichkeitsverständnis. Indes, wenn jede Wahrheit relativ, weil standortgebunden und subjektiv ist, dann endet – mangels der Möglichkeit eines übergreifenden Konsenses – das Getümmel im handfesten Triumph der Stärkeren über die Schwächeren. Letztere werden, falls möglich, durch „affektive Rhetoriken“ zum Schweigen gebracht.
Schutzräume für Meinungsfreiheit
„Ich missbillige, was Sie sagen, aber würde bis auf den Tod Ihr Recht verteidigen, es zu sagen“: Dieses berühmte Zitat, angeblich von 1770, wird oft fälschlich Voltaire zugeschrieben. Denn es bringt seine aufgeklärte Geisteshaltung zum Ausdruck. Der traditionelle Liberalismus wurde geprägt durch den Wunsch, das Bestmögliche für den Gemeinschaftsbetrieb zu erreichen. Vom Offiziellen abweichende Standpunkte sollten gefördert, öffentliche Schutzräume für Meinungsfreiheit geschaffen werden, sei es in Form von Toleranzpatenten oder Rechtseinräumungen.
In seiner Schrift On Liberty (Über die Freiheit) hatte John Stuart Mill 1859 argumentiert, dass das Verbot von selbst offensichtlich falschen Standpunkten schädlich sei. Denn dadurch würde die Wahrheit, die sich niemals gegen Widersprüche bewähren müsse, zu einem leblosen Dogma, während irrtümliche Lehren immerhin einen Funken Wahrheit enthalten könnten. Freilich, Mill, der für eine repräsentative demokratische Ordnung plädierte, wollte maßgebliche Äußerungen auf die gebildeten Schichten beschränkt wissen, um der „Verpöbelung“ des öffentlichen Diskurses zu wehren. Heute hingegen haben – den unverbrüchlichen Menschenrechten zufolge – alle Bürgerinnen und Bürger dasselbe Recht, nicht nur ihre Weisheit glänzen zu lassen, sondern auch ihre Dummheit in Umlauf zu bringen.
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