Plädoyer für eine Lebensstilmedizin

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Neue Ansätze zur Verbindung von präventiven und therapeutischen Maßnahmen.

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Neue Ansätze zur Verbindung von präventiven und therapeutischen Maßnahmen.

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Die nachstehenden Äußerungen sollen eine Diskussionsgrundlage bieten, und nicht eine wissenschaftlich fundierte Aufarbeitung des Themas. Vielmehr handelt es sich um eine gesundheits- und standespolitisch motivierte Auflistung von Forderungen und Hypothesen, die durchaus provokant formuliert werden sollen.

Lebensstilmedizin - was ist das?

Lebensstilmedizin betreiben alle niedergelassenen Ärzte, und zwar täglich, und trotz aller Bemühungen nicht immer optimal. Lebensstilmedizin ist die Herausforderung für das Gesundheits- und Sozialwesen der nächsten Jahrzehnte.

Lebensstilmedizin bedeutet die sinnvolle Kombination von medikamentöser Intervention und Verhaltensbeeinflussung; dies bedingt wiederum die enge Zusammenarbeit zwischen therapierenden Mitgliedern des medizinischen Versorgungssystems und den Patienten beziehungsweise Klienten. Lebensstilmedizin bedeutet weiters die Kombination von präventiven und therapeutischen Maßnahmen.

Typische Indikationsbereiche der Lebensstilmedizin: Hypertonie, Fettstoffwechselstörungen, Diabetes, Nikotinabhängigkeit.

Es wird von der Hypothese ausgegangen, dass das intra- und extra-murale System des Gesundheitswesens zur Zeit nicht oder noch nicht in der Lage ist, seinen Aufgaben im Bereiche der Lebensstilmedizin optimal nachzukommen. Gründe dafür sind unter anderem folgende: Ausbildungsdefizite sowohl im prä- und postpromotionellen Bereich, mangelnde Kooperation im Gesundheits- und Sozialwesen, Honorierungssysteme, falsch verstandener Einsatz der Gesundheitsökonomie (vor allem unter der Zielvorstellung "Kosteneinsparung").

Lebensstilmedizin als Chance für den niedergelassenen Arzt Die Lebensstilmedizin ist eine personalintensive Medizin mit einer engen Bindung von Patienten/Klienten an die betreuenden Institutionen. Im Sinne des "social marketings" eröffnen sich vor allem auch für die niedergelassene Ärzteschaft große Möglichkeiten der Erbringung von Dienstleistungen. Und Lebensstilmedizin ist nur dann zu verstehen und durchzuführen, wenn man medizinische Leistungen als Dienstleistungen (im besten Sinne des Wortes) versteht, und wenn man das Wort "Marketing" in seinem ursprünglichen Sinne akzeptiert.

Social Marketing Unter Marketing versteht man die Orientierung des eigenen Angebotes (an Produkten, Dienstleistungen) an den Bedürfnissen der Zielgruppe. Im übertragenen Sinne also an den Bedürfnissen, die sich aus den lebensstilassoziierten Gesundheitsstörungen ergeben. Zwangsläufig muss man sich daher mit den Verfahren der Werbung, Öffentlichkeitsarbeit, Verhaltensbeeinflussung und anderen in verstärktem Maße auseinandersetzen. Dies kann das medizinische System, nicht zuletzt aufgrund des Verrechnungs- und Honorierungssystems noch nicht optimal.

Es eröffnet sich daher die gesundheitspolitische Notwendigkeit, die Erbringung ärztlicher Leistungen grundsätzlich zu überdenken, und die persönlichen Leistungen (etwa im Beratungsbereich) an die Bedeutung der technischen Leistungen im Gesundheits- und Sozialwesen (etwa auf der Basis Honorierung) heranzuführen beziehungsweise anzugleichen.

Außerdem wird es notwendig sein, grundsätzlich neue diagnostische und therapeutische Verfahren (wir denken in diesem Zusammenhang nur an die Nikotinabhängigkeit) in die Leistung von Verrechnungskatalogen aufzunehmen.

Verzahnung, des intra- und extramuralen Systems Die bisherige strenge Trennung zwischen dem intra- und extramuralen System der medizinischen Versorgung (also: was geschieht im Krankenhaus, was geschieht im niedergelassenen Bereich) beginnt sich, viel zu spät (aber doch) etwas aufzulösen. Die Zukunft muss darin bestehen, dass hier ein gleichsam "grenzübergreifendes" Management Platz hat, das sich etwa im Sinne des social marketings - siehe oben - an den Bedürfnissen der Patienten/Klienten orientiert und dem jeweiligen Krankheitsbild angepasst ist.

Selbstverständlich ist das vergleichsweise "teure" Krankenhaus nicht in der Lage, eine längerfristige Betreuung etwa von Hypertonikern, Adipösen oder sonstigen Patienten mit lebensstil-assoziierten Gesundheitsstörungen durchzuführen. Hier bieten sich verschiedene neue organisatorische Überlegungen an, die auf einer engen Kooperation zwischen der Krankenanstalt und der niedergelassenen Ärzteschaft beruhen.

Organisationsformen im niedergelassenen Bereich Im Bereich der niedergelassenen Ärzteschaft beginnt sich allmählich die Überzeugung durchzusetzen, dass (sehr provokant formuliert) die Tage des Allgemeinmediziners im Sinne des "Einzelkämpfers" gezählt sind. Er (beziehungsweise sie) wird sich vielmehr zum Manager und Unternehmer im Rahmen eines Dienstleistungsunternehmens entwickeln müssen, das einerseits mehrere Kollegen (aus dem ärztlichen Bereich) einbindet, aber auch solche aus anderen Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesens (man denke in diesem Zusammenhang nur an die Ernährungswissenschaften oder die Gesundheitspsychologie beziehungsweise die medizinische Soziologie).

Der unternehmerisch denkende und an der mittel- und langfristig orientierten Betreuung seiner Patienten/Klienten interessierte Arzt wird auch an Kooperationen mit der regionalen Krankenanstalt interessiert sein, und diese wiederum wird sich diesen Bemühungen nicht verschließen. Es wird längerfristig ein offenes kommunizierendes System entstehen, das keine strenge Unterscheidung mehr zwischen Krankenhausaufenthalt und Betreuung im niedergelassenen Bereich kennt.

Lebensstil-Abteilungen und Lebensstilmedizinische Zentren Die Krankenanstalten werden (gleichsam zwangsläufig) Abteilungen für Lebensstilmedizin etablieren, und im niedergelassenen Bereich werden sich lebensstilmedizinische Zentren entwickeln. Diese lebensstil-medizinischen Zentren werden von einzelnen Ärzten oder Ärzte-Vereinigungen betrieben werden, und es ist durchaus vorstellbar, dass diese lebensstilmedizinischen Zentren auch ihre "Filialen" in den einzelnen Krankenanstalten haben.

Die "Landschaft" der gesundheitlichen Versorgung wird sich grundsätzlich wandeln (müssen).

Beispiele: Denken wir an die Betreuung unserer Hypertoniker, die nur in 30 Prozent der Fälle tatsächlich ihr Therapieziel erreichen.

Denken wir an die rund 500.000 adipösen Österreicher und Österreicherinnen, die nur zum verschwindenden Teil optimal betreut werden, fehlt es doch an den entsprechenden organisatorischen Möglichkeiten.

Denken wir nur an die Diagnostik und Therapie der Nikotinabhängigkeit, die wissenschaftlich sehr weit entwickelt ist, deren Umsetzung in die tägliche Praxis aber noch sehr zu wünschen übrig lässt.

Lösungsansätze * Die Sozialmedizin Wien hat einige Lösungsansätze anzubieten, die bereits mehr oder minder in das medizinische Versorgungssystem integriert wurden: * Das System "Schlank ohne Diät" zur Ernährungsberatung und Gewichtskontrolle ist ein bereits seit vielen Jahren etabliertes und evaluiertes System, das von der niedergelassenen Ärzteschaft durchgeführt wird und noch vielmehr als bisher eingesetzt werden könnte.

* Eine Ergänzung stellt das WEBS dar (Wissenschaftliches Ernährungsberatungs Service), das ebenfalls zur verstärkten Betreuung von gesunden und kranken Österreichern und Österreicherinnen eingesetzt werden könnte.

* Die Diagnostik und Therapie der Nikotinabhängigkeit ist ebenfalls soweit entwickelt, dass man klare Informationen und Richtlinien geben kann, die auch in der Ordination Anwendung finden können.

* Die Betreuung von Hypertonie-Patienten kann vermutlich durch relativ einfache Maßnahmen verbessert werden (typische Beispiele: Einladungssysteme, verstärkter Einsatz der Selbstmessung, Patienten-Gruppen).

Einladung zur Diskussion Es darf die Hoffnung ausgesprochen werden, dass die vorangestellten, bewusst provokant formulierten Aussagen dazu führen werden, dass sich eine gesundheitspolitische Diskussion entwickelt. Dieser wird aus Sicht der Sozialmedizin Wien mit großem Interesse entgegen gesehen.

Der Autor ist seit 1983 Ordentlicher Professor für Sozialmedizin und Facharzt für Sozialmedizin, sowie Vorstand des Institutes für Sozialmedizin der Universität Wien. Seinen Vortrag hielt er im Rahmen der Veranstaltung "Moderner Lebensstil - Sich rundum wohlfühlen ..." der NÖ-Landesakademie am 1. Februar 2001 in St. Pölten.

Thema: Um Fragen des zukünftigen Lebensstils ging es bei einer Veranstaltung der NÖ-Landesakademie. Klarerweise standen auch das Thema einer gesunden Lebensweise zur Debatte. Dabei wurde der Begriff einer Lebensstilmedizin geprägt. Diese Art von Medizin sei die große Herausforderung für das Gesundheits- und Sozialwesen der nächsten Jahrzehnte, gehe es doch um ein sinnvolle Verbindungen von Vorbeugung und Heilmaßnahmen. die furche dokumentiert den Vortrag zum Thema.

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