Querdenker - © Foto: picturedesk / dpa /.com Georg Wendt

Polarisierung um Corona-Maßnahmen: Der neue Clash der Kulturen

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Ist es noch möglich, die Aggression angesichts der angekündigten Maßnahmen gegen die Pandemie - insbesondere die Impfpflicht - zu verstehen? Und was könnte aus der Sackgasse führen? Über Narrative, Argumente und Authentizität.

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Ist es noch möglich, die Aggression angesichts der angekündigten Maßnahmen gegen die Pandemie - insbesondere die Impfpflicht - zu verstehen? Und was könnte aus der Sackgasse führen? Über Narrative, Argumente und Authentizität.

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Die Auseinandersetzungen um die Corona-Maßnahmen der Regierung in unseren Gesellschaften irritieren zunehmend. Zu beobachten sind wachsende Aggressivität und Feindschaft der Botschaften in Sozialen Medien und bei Demonstrationen, verbunden mit einer lang nicht gekannten Maßlosigkeit der Vorwürfe. Die Ankündigung einer Impfpflicht löst neue Wellen eines immer gewaltbereiteren Widerstandes aus. All das konterkariert die ursprüngliche Hoffnung, die Pandemie würde zu einem Mehr an Solidarität führen.

Jenseits der Frage nach den richtigen Strategien in der Pandemiebekämpfung und deren verfassungsrechtlicher Legitimität gibt es das Bedürfnis, das, was hier gerade im Gange ist, zu verstehen. Nicht verstehen zu können, ist nicht nur existenziell quälend, wenn es um Personen geht, die einem nahestehen. Es kann auch dazu führen, generell allen, die anderer Meinung sind, nur noch Böswilligkeit zu unterstellen.

Erkenntnis als Abgrund

In wissenssoziologischen Analysen der Gegenwart begegnet man dem Begriff des „erkenntnistheoretischen Abgrunds“ (epistemological abyss). Gemeint ist ein Wissen, das sich nur noch in der eigenen Welt bewegt und nicht mehr in der Lage ist, eine jenseits der eigenen Welt liegende Wahrheit überhaupt denkbar werden zu lassen. Die Harvard-Historikerin Jill Lepore verwendet diesen Begriff, um den Zustand zu beschreiben, in den die US-amerikanische Gesellschaft seit Längerem geraten ist. Es ist die in der Trump-Ära stärker gewordene gesellschaftliche Tendenz, sich von der Suche nach einer gemeinsamen Wahrheit zu verabschieden, sich durch andere Positionen nicht mehr infrage stellen zu lassen und diese nur noch als etwas anzusehen, was bekämpft und zerstört werden muss. Ein Krieg der Meinungen anstatt der Suche nach gemeinsamer Wahrheit.

Ausgehend von den Sprach- und Kulturwissenschaften hat sich das „Narrativ“ als letzter Referenzpunkt im wechselseitigen Verstehen von und im Umgang mit Wahrheitsansprüchen durchgesetzt. Politiker, Religionen und Wissenschafter erzählen „Geschichten“, die mehr oder weniger überzeugend sind und immer auch anders erzählt werden könnten. Der bekannte italienische Philosoph Giorgio Agamben spricht im Rahmen von Kommentaren zur Corona-Pandemie von drei großen Glaubenssystemen, denen Menschen im Abendland anhingen: „Christliche Religion“, „Kapitalismus“ und „Wissenschaft“. Alle drei hätten ihre Dogmen, Rituale, Priester und Gläubige, und es sei Sache des Glaubens, nicht irgendeiner „Wahrheit“, welcher „Religion“ wir zuneigen. Damit scheint es nicht mehr möglich, nach einem umgreifenden Verstehen, einer umgreifenden Wahrheit zu suchen. Was bleibt, ist ein Nebeneinander und Nacheinander verschiedener Narrative, so wie wir, der Logik der Dekonstruktion folgend, in der Interpretation von Texten in einer ständigen Abfolge von Sinnverschiebungen gefangen sind.

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