Privatisierung: (k)eine Ideologie-Frage

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Lorenz Fritz, Generalsekretär der Industriellenvereinigung, und Richard Leutner, Leitender Sekretär des Österreichischen Gewerkschafts-bundes im Furche-Streitgespräch: Über das Ende der Verstaatlichten Industrie und die Zukunft der Industriepolitik, die Sinnhaftigkeit staatlichen Kerneigentums und die Grenzen der Privatisierung im Infrastruktur- und Sozialbereich.

Die Furche: Die Bundesregierung plant, in dieser Legislaturperiode unter das Kapitel "Verstaatlichte Industrie" einen Schlussstrich zu ziehen. Ein Kommentator hat dieser Tage dazu geschrieben: "Ein Mythos stirbt". Herr Fritz, wie sehen Sie das Ende dieses Mythos?

Lorenz Fritz: Ich habe die ÖIAG (Verstaatlichten-Holding; Anm.) nie als Mythos betrachtet, sondern als notwendiges Instrument. Das Verstaatlichten-Debakel hat uns gelehrt: Als 100-Prozent-Eigentümer ist der Staat ungeeignet. Weil da die Parteipolitik hineinkommt und Parteipolitik sich mit Markt schlecht verträgt, vorsichtig formuliert. Daher hat man die ÖIAG im Sinne einer Privatisierungsagentur ins Leben gerufen. Jetzt bringt man das eben zu Ende.

Richard Leutner: Ich sehe diese Entwicklung äußerst kritisch; es zeigt sich wieder, dass die Regierung als schlechter Kaufmann agiert. Denn wenn man alle Staatsbeteiligungen binnen vier Jahren verkaufen will, dann ist das so, wie wenn ein Privater sagt: Bis 12 Uhr muss ich mein Haus verkauft haben - aber bitte gebt mir einen guten Preis. Außerdem halte ich die Sicherung eines österreichischen Kerneigentums für ganz entscheidend. Man hat das ja bei Semperit gesehen: Zuerst sind die Forschungszentralen weg, dann andere wichtige Teile des Unternehmens, am Ende ist der Standort verloren. Ich sehe hinter dem Privatisierungsplan der Bundesregierung auch nicht so sehr ein ökonomisches Kalkül, sondern eine neokonservative Ideologie, weil manche eben meinen, dass ein privates Unternehmen per se besser ist als eines, an dem der Staat Anteile hält.

Die Furche: Dass sich der Staat als schlechter Unternehmer erwiesen hat: Würden Sie das, Herr Leutner, bestreiten?

Leutner: Gerade die ÖIAG-Unternehmen haben eine sehr erfolgreiche Entwicklung genommen, etwa die OMV: da gibt es eine Sperrminorität der ÖIAG, da gibt es auch ausländische Partner - das läuft sehr gut. Es kommt eben auf die richtige Mischung zwischen Privat- und Staatseigentum an. Aber wenn die ÖIAG liquidiert wird (wie von Finanzminister Grasser vorgesehen; Anm.), dann sehe ich die Gefahr, dass es zu feindlichen Übernahmen aus dem Ausland kommt.

Fritz: Wir sollten in der Diskussion Kerneigentum und Unternehmensführung auseinanderhalten. Was die staatliche Führung von Unternehmen, die am Markt reüssieren müssen, betrifft, so kann kein Zweifel bestehen, dass das ein Flop war. Darüber sollten wir uns einmal einig sein. Und dann kann man weiterreden über die Sinnhaftigkeit von staatlicher Beteiligung an solchen Unternehmen.

Leutner: Es ist wichtig, dass wir die Eigentumsverhältnisse so gestalten, dass der österreichische Einfluss gewahrt bleibt. Wenn man nun bis 2007 die ÖIAG abschaffen will, so bin ich skeptisch, dass der zuletzt erfolgreiche Weg in der österreichischen Industrie fortgesetzt werden kann. Wenn etwa die ÖIAG bei der VOEST-Alpine nicht mehr Kerneigentümer ist, besteht schon die Gefahr, dass Linz zur verlängerten Werkbank eines ausländischen Konzerns wird.

Fritz: Die Frage ist: Wer kann und wer soll Kerneigentümer sein? Muss das der Staat sein? Wenn ich Herrn Leutner richtig verstanden habe, meint er: Ja, weil sonst die neokonservative Ideologie zuschlägt. Ich glaube, da geht es überhaupt nicht um Ideologie, sondern um Zweckmäßigkeit für die Unternehmen. Der Staat kann ein vernünftiger Kerneigentümer sein, muss aber nicht, das hängt ganz vom jeweiligen Unternehmen ab. Ich würde Leutner zustimmen, dass es in der jetzigen Situation der VOEST, wo man zum Teil noch keine endgültige Position auf dem internationalen Markt gefunden hat, schlecht wäre, einen strategischen Eigentümer hereinzuholen, der vielleicht das Unternehmen auseinandernimmt und damit wesentliche Aktivitäten aus Österreich abzieht. Das Beispiel Semperit ist aber überhaupt nicht geeignet: Hätte die CA Semperit nicht an Conti verkauft, hätte die Firma nicht so lange bestanden. Nur in einem größeren Konzern ließ sich der Standort länger halten. Dass er zuletzt nicht mehr zu halten war, darf man dann nicht unter "Ausverkauf" subsumieren. Wir haben Semperit länger gehabt, als wir es ohne Conti gehabt hätten. Man muss aber letztlich auch den Mut haben zu sagen, dass gewisse Produktionen in dem Land keinen Platz mehr haben. Man kann nicht alles verteidigen und bewahren und einzementieren. Ein anderes Beispiel ist die Austria Tabak (ATW): Da hat es sicher in den Augen von Leutner einen Ausverkauf ans Ausland gegeben - aber schauen Sie sich an, wie gut es der Firma geht. So ausgelastet waren die Werke noch nie, es sind zusätzliche Zuständigkeiten nach Österreich gekommen. Das kann ja auch für die Gewerkschaften nicht schlecht sein, wenn das Unternehmen wächst und mehr Beschäftigte aufnehmen und ihnen vielleicht auch noch mehr zahlen kann.

Leutner: Wie sich der Standort der ATW weiter entwickeln wird, werden wir ja erst sehen. Bei Semperit war es jedenfalls so, dass, nachdem die Entwicklungsabteilung abgesiedelt worden war, bestimmte Produktionen, bei denen das Unternehmen sehr wohl konkurrenzfähig gewesen wäre - im höherwertigen Bereich -, auf einmal in anderen Werken angesiedelt wurden. Und das hängt natürlich mit dem strategischen Kerneigentum zusammen. Ich würde mir also auch weiterhin für die zentralen Bereiche der Industrie österreichischen Einfluss wünschen. Das kann natürlich prinzipiell auch ein Privater sein, aber wenn es den nicht gibt, dann muss es eben nach wie vor der Staat sein.

Die Furche: In der Auseinandersetzung wird der Regierung immer wieder vorgeworfen, es gehe nicht um Wirtschaftspolitik, sondern pure Geldnot treibe zu raschem Verkaufen...

Fritz: Nein, die ÖIAG will nicht Geld abliefern, sondern sie will, dass etwas weitergeht im Sinne der Entwicklung der Unternehmen. Denken Sie nur an die Post, die sich jetzt am privaten Markt als ex-verstaatlichter Monopolist etablieren muss. Die brauchen ganz dringend einen strategischen Eigentümer, der ihnen hilft, überhaupt zu überleben. Es geht darum, die Firmen in eine Position zu bringen, dass sie weiter wachsen können. Sonst kriege ich ja auch keinen vernünftigen Preis, sonst muss man sie zu billig hergeben, dann wären es wirklich Schnäppchen für das Ausland. Daher muss man, bevor man zu einem vernünftigen Preis verkaufen kann, einmal die Position ausbauen - Beispiel Post. Es geht also nicht um einen willkürlich festgesetzten Termin, dass man sagt, bis 2007 muss alles verkauft werden...

Die Furche: Das ist aber die Absicht...

Leutner: Jedenfalls glaube ich, dass es eine ganze Reihe von öffentlichen Dienstleistungen gibt, wo der Markt versagt - bekannte Beispiele: britische Bahn, kalifornische Stromversorgung, oder auch die Abfallwirtschaft in Österreich, wo ja mittlerweile der Trend wieder zur Re-Kommunalisierung geht, weil die Erfahrungen nicht so günstig waren. Ich möchte in der Daseinsvorsorge nicht in eine Situation kommen, wo etwa ein ausländischer Großkonzern den Österreichern das Wasser zur Grundversorgung verkauft.

Fritz: Nocheinmal: natürlich gibt es öffentliche Aufgaben, die man nicht privatisieren kann. Und: man kann Privatisierung generell natürlich so durchziehen, dass sie nicht funktioniert - wie etwa beim kalifornischen Strommarkt oder bei der britischen Bahn. Das sind in Österreich aber überhaupt keine reellen Gefahren. Die Frage wäre zu diskutieren: Wie weit lassen wir den Staat da drinnen? Der hat da seine Aufgaben - aber wie weit nutzen wir zusätzlich private Initiativen im Sinne eines gemischten Modells, um zu besseren Ergebnissen zu kommen? Beispiel Post- oder Bahnbus: Das kann man nicht privatisieren, sagt die Gewerkschaft. Klar kann man das nicht zu 100 Prozent privatisieren, aber man kann bestimmte Strecken unter genauen Auflagen des Staates - Taktfahrplan etc. - vergeben: an den, der den geringsten Zuschuss vom Staat braucht; denn dass das ein Zuschussbetrieb bleibt, ist logisch. Was soll an so einem Modell schlecht sein? Fährt der private Fahrer vielleicht schlechter?

Leutner: Ich sehe die Gefahr, dass die rentablen Linien an Private gehen - und die anderen dem Staat bleiben...

Fritz: ... das berühmte Rosinen-Picken...

Leutner: ... was das Gesamtunternehmen natürlich in Frage stellt. Und bei der ÖBB gibt es ja immer wieder Vorstöße in Richtung Zerschlagung des Unternehmens.

Fritz: Das sind doch Kampfvokabel: "die ÖBB zerschlagen", damit sich Private die Rosinen rauspicken können, und der Rest bleibt dem Staat. Wenn man das so machen würde, würde ganz Österreich zu Recht über die Regierung herfallen und sie nicht mehr wählen. Aber diese Gefahr sehe ich nicht, ich sehe nur die Befürchtungen der Gewerkschaft. Worum es geht, das ist Marktliberalisierung - die Eröffnung zusätzlicher Marktchancen. Personenverkehr wird nie gewinnbringend sein, das wird immer Aufgabe des Staates sein; aber Güterverkehr auf den europäischen Schienen, das ist etwas, wo ich als Kleiner reüssieren kann.

Leutner: Warum aber kann ich dann das Unternehmen nicht zusammenlassen?

Fritz: Die Frage der Organisationsform ist nach den Marktchancen zu beantworten, aber sicher nicht nach den Vorstellungen der Zentralbetriebsräte, die um ihren Einfluss bangen. Wir waren bislang nur deswegen für die Trennung in einzelne Unternehmen, weil wir befürchten, dass man gar keine Marktchancen wahrnehmen will, dass alles so bleiben soll, wie es ist. Dann aber steigen die Zuschüsse Jahr für Jahr - und das Geld fehlt uns für viel wichtigere Zukunftsinvestitionen in diesem Land.

Die Furche: Was ist in den nicht privatisierbaren Bereichen zu tun?

Fritz: Auf jeden Fall die Effektivität erhöhen. Man kann ja auch hier von der Privatwirtschaft lernen. Die öffentlichen Systeme sind nie effektiv. Die Kunden würden es aber sehr schätzen, wenn die Leistung gleich oder besser ist und weniger kostet. Es ist ja alles in Ordnung in diesem Land, es ist nur zu teuer. Wir alle wissen, auch wenn wir keine Experten sind, dass es etwa im Gesundheitssystem eine Kostenexplosion gibt. Wir können das Geld da nicht weiter verplempern.

Leutner: Das war wieder unterschwellig der Vorwurf, der öffentliche Sozialstaat sei zu teuer. Wenn man das US-amerikanische Gesundheitssystem mit dem österreichischen vergleicht, so sieht man, dass das österreichische zu 70 Prozent öffentlich, zu 30 Prozent privat finanziert ist; in den USA ist es genau umgekehrt: 30 zu 70 Prozent. In den USA werden aber 15 Prozent des Volkseinkommens für Gesundheit ausgegeben, in Österreich sind es zehn Prozent.

Die Furche: Halten Sie, Herr Leutner, es für berechtigt, zunehmend Eigenverantwortung in diesen Bereichen einzufordern?

Leutner: Der Streit ist natürlich ein verteilungspolitischer. Einerseits wird Eigenvorsorge steuerlich begünstigt, andererseits werden die Bundesbeiträge zur Pensionsversicherung tendenziell reduziert. Das kommt klarerweise den Besserverdienenden zugute. Auch Selbstbehalte treffen kleinere Einkommen stärker.

Fritz: Wir sind uns einig, wir wollen kein privates Gesundheitssystem. Daher hat es keinen Sinn, das amerikanische System zu thematisieren und zu unterstellen, das solle bei uns durch die Hintertür eingeführt werden: Das ist nicht am Tisch. Ich gebe Ihnen recht: Das ist eine Zweiklassen-Medizin; und deshalb ist es ja auch so teuer: die einen können es sich gar nicht leisten, und bei den anderen können sie Geld verdienen. Das ist nicht unser Thema. Unsere Diskussion geht darum, dass das Gesundheitssystem, wie wir es in diesem föderalen Staat aufgebaut haben, zu teuer, zu ineffizient ist. Also lassen wir es in der öffentlichen Hand, aber machen wir Druck, dass die Effektivität steigt. Daher ist die Idee eines Selbstbeitrags - wenn man es gescheit macht - eine gute Sache. Denn wenn wir selber dazu zahlen, sind wir interessiert, dass sich die Leistungen verbessern, wenn nicht, dann nicht; das ist im Prinzip das Gleiche wie bei den Studiengebühren.

Leutner: In Wirklichkeit setzen Selbstbehalte ja nicht bei den Ursachen von Gesundheitskosten an, sondern führen nur dazu, dass die Kosten anders getragen werden: nämlich nicht von einer Solidargemeinschaft, sondern vom einzelnen Kranken. Grundsätzlich müssen wir uns auch darauf einstellen, dass das moderne Gesundheitswesen mit seinen technischen Möglichkeiten im Jahr 2010 nicht mehr um den Preis von 1970 zu haben sein kann. In Zukunft wird und muss uns also die Gesundheit mehr wert sein.

Die Furche: Abschließend die Bitte um ein Resümee: Der Zug fährt Richtung Privatisierung. Was sind dabei für Sie die wichtigsten Punkte, Gefahren wie Chancen?

Leutner: Bei der ÖIAG sehe ich die Gefahr, den Einfluss in wichtigen Bereichen der Industrie, der auch für die Arbeitnehmer entscheidend ist, zu verlieren. Im Bereich der Daseinsvorsorge sehe ich eine gewisse Übereinstimmung mit Lorenz Fritz, dass es zentrale Bereiche gibt, die öffentlich organisiert sein müssen - Bildung, Gesundheit, Pensionen. Wir müssen uns hüten zu glauben, dass der Markt alles von selber löst. Im Wettbewerb führt der Markt zu Konzentrationen, Güter wie Umweltsicherheit müssen auch künftig gemeinsam hergestellt werden, da ist die Privatwirtschaft nicht dazu in der Lage. Der soziale Ausgleich, Menschenwürde, Berücksichtigung der Familie und verschiedenes mehr: das sind alles Bereiche, auf die man privatwirtschaftliche Kategorien nicht unbesehen übertragen kann.

Fritz: Auch wir glauben nicht, dass der Markt alles regeln kann, das haben wir schon immer gewusst. In den öffentlichen Dienstleistungen kann der Markt gar nicht funktionieren, weil man kein Geld verdienen kann. Wir haben in diesem Punkt aber nur dann Übereinstimmung, wenn wir dazu sagen, dass die Effektivität erhöht werden muss. Es kann nicht sein, dass die Kosten dreimal schneller wachsen als die Bevölkerung bereit ist, mit ihren Steuergeldern hineinzuzahlen - wie es im Gesundheitswesen derzeit der Fall ist. Deswegen muss es hier grundlegende Strukturreformen geben. Da sind die am meisten gefordert, die an der Struktur sitzen und sie aufgebaut haben. Das ist ja eine Zeit lang nicht schlecht gegangen. Aber jetzt gibt es neue Herausforderungen für die Selbstverwaltung, und seit gut einem Jahrzehnt ist die neue Aufgabenstellung bekannt, ohne dass es zu einschneidenden Maßnahmen gekommen wäre - statt dessen lässt man die Regierung dilettieren. All diese Fragen sind im übrigen keine Ideologiefragen mehr - es ist eine Zweckmäßigkeitsfrage für uns alle. Daher müssen wir die Rolle des Staates entideologisieren und ganz pragmatisch fragen: Was sind die Kernaufgaben, wo kann man sich Privater bedienen, ohne die Sache aus der Hand zu geben - und was gibt man besser auf?

Fritz: Das steht da so drinnen, weil die Entwicklungspläne der ÖIAG vorsehen, dass die Firmen bis dahin zum Verkauf reif sind. Und zum Argument der Geldnot: Die Regierung kann die Erlöse aus der Privatisierung, wenn sie das ÖIAG-Gesetz nicht ändert, ja nicht für irgendetwas verwenden, sondern eigentlich nur für die Schuldentilgung.

Leutner: Ich halte daran fest, dass ein fixes Datum für einen Verkauf zu nennen, ökonomisch sinnlos ist: da kann ich keine guten Preise realisieren. Abgesehen davon halte ich den ganzen Zugang für sehr defensiv. Ich denke, wir sollten die ÖIAG umwandeln: von einer reinen Verkaufsgesellschaft in eine Gesellschaft, die auch Beiträge zur Industriepolitik leistet, wie das bei früheren Vorständen durchaus noch der Fall war. In Wahrheit ist das ja eine Bankrotterklärung der Industriepolitik, dass die ÖIAG nur mehr eine reine Abverkaufsgesellschaft ist. Da wäre ein offensiveres Konzept sinnvoll. Denn die Industrie ist gerade für die Gewerkschaftsbewegung ganz wichtig - von der Arbeitnehmerzahl, von der wirtschaftlichen Wertschöpfung her.

Die Furche: Ist alles gleichermaßen privatisierbar - oder muss man Unterschiede machen? Kann man Bereiche wie Infrastruktur, Soziales etc., die von allgemeinem Interesse sind, genauso behandeln wie einen Stahlkonzern?

Fritz: Natürlich nicht - da sind wir uns einiger als in vielen anderen Fragen. Aber die Gewerkschaft muss vorher noch zur Kenntnis nehmen, dass in der Industriepolitik die öffentliche Hand - ob defensiv oder offensiv - keine Rolle mehr spielen kann. Daher: zu Ende privatisieren. Anders sieht die Sache aus, wenn man von der Infrastruktur redet. Das ist kein internationaler Markt, das ist nicht zur Gänze privatisierbar. Sie können das europäische Schienennetz nicht im Wettbewerb zum amerikanischen sehen. Daher hat der Staat dort auch weiterhin eine Rolle zu spielen; da geht es um eine Mischform von privater Initiative und öffentlicher Hand.

Leutner: Wenn ich mir andere Länder anschaue - Frankreich, oder auch Deutschland -, so ist das nirgends so, dass der nationale Anteil in Schlüsselunternehmen im Banken- oder Industriebereich vollkommen aufgegeben wird...

Fritz: ... die französische Telekom geht gerade zu Grunde deswegen...

Leutner: Jedenfalls glaube ich, dass es eine ganze Reihe von öffentlichen Dienstleistungen gibt, wo der Markt versagt - bekannte Beispiele: britische Bahn, kalifornische Stromversorgung, oder auch die Abfallwirtschaft in Österreich, wo ja mittlerweile der Trend wieder zur Re-Kommunalisierung geht, weil die Erfahrungen nicht so günstig waren. Ich möchte in der Daseinsvorsorge nicht in eine Situation kommen, wo etwa ein ausländischer Großkonzern den Österreichern das Wasser zur Grundversorgung verkauft.

Fritz: Nocheinmal: natürlich gibt es öffentliche Aufgaben, die man nicht privatisieren kann. Und: man kann Privatisierung generell natürlich so durchziehen, dass sie nicht funktioniert - wie etwa beim kalifornischen Strommarkt oder bei der britischen Bahn. Das sind in Österreich aber überhaupt keine reellen Gefahren. Die Frage wäre zu diskutieren: Wie weit lassen wir den Staat da drinnen? Der hat da seine Aufgaben - aber wie weit nutzen wir zusätzlich private Initiativen im Sinne eines gemischten Modells, um zu besseren Ergebnissen zu kommen? Beispiel Post- oder Bahnbus: Das kann man nicht privatisieren, sagt die Gewerkschaft. Klar kann man das nicht zu 100 Prozent privatisieren, aber man kann bestimmte Strecken unter genauen Auflagen des Staates - Taktfahrplan etc. - vergeben: an den, der den geringsten Zuschuss vom Staat braucht; denn dass das ein Zuschussbetrieb bleibt, ist logisch. Was soll an so einem Modell schlecht sein? Fährt der private Fahrer vielleicht schlechter?

Leutner: Ich sehe die Gefahr, dass die rentablen Linien an Private gehen - und die anderen dem Staat bleiben...

Fritz: ... das berühmte Rosinen-Picken...

Leutner: ... was das Gesamtunternehmen natürlich in Frage stellt. Und bei der ÖBB gibt es ja immer wieder Vorstöße in Richtung Zerschlagung des Unternehmens.

Fritz: Das sind doch Kampfvokabel: "die ÖBB zerschlagen", damit sich Private die Rosinen rauspicken können, und der Rest bleibt dem Staat. Wenn man das so machen würde, würde ganz Österreich zu Recht über die Regierung herfallen und sie nicht mehr wählen. Aber diese Gefahr sehe ich nicht, ich sehe nur die Befürchtungen der Gewerkschaft. Worum es geht, das ist Marktliberalisierung - die Eröffnung zusätzlicher Marktchancen. Personenverkehr wird nie gewinnbringend sein, das wird immer Aufgabe des Staates sein; aber Güterverkehr auf den europäischen Schienen, das ist etwas, wo ich als Kleiner reüssieren kann.

Leutner: Warum aber kann ich dann das Unternehmen nicht zusammenlassen?

Fritz: Die Frage der Organisationsform ist nach den Marktchancen zu beantworten, aber sicher nicht nach den Vorstellungen der Zentralbetriebsräte, die um ihren Einfluss bangen. Wir waren bislang nur deswegen für die Trennung in einzelne Unternehmen, weil wir befürchten, dass man gar keine Marktchancen wahrnehmen will, dass alles so bleiben soll, wie es ist. Dann aber steigen die Zuschüsse Jahr für Jahr - und das Geld fehlt uns für viel wichtigere Zukunftsinvestitionen in diesem Land.

Die Furche: Was ist in den nicht privatisierbaren Bereichen zu tun?

Fritz: Auf jeden Fall die Effektivität erhöhen. Man kann ja auch hier von der Privatwirtschaft lernen. Die öffentlichen Systeme sind nie effektiv. Die Kunden würden es aber sehr schätzen, wenn die Leistung gleich oder besser ist und weniger kostet. Es ist ja alles in Ordnung in diesem Land, es ist nur zu teuer. Wir alle wissen, auch wenn wir keine Experten sind, dass es etwa im Gesundheitssystem eine Kostenexplosion gibt. Wir können das Geld da nicht weiter verplempern.

Leutner: Das war wieder unterschwellig der Vorwurf, der öffentliche Sozialstaat sei zu teuer. Wenn man das US-amerikanische Gesundheitssystem mit dem österreichischen vergleicht, so sieht man, dass das österreichische zu 70 Prozent öffentlich, zu 30 Prozent privat finanziert ist; in den USA ist es genau umgekehrt: 30 zu 70 Prozent. In den USA werden aber 15 Prozent des Volkseinkommens für Gesundheit ausgegeben, in Österreich sind es zehn Prozent.

Die Furche: Halten Sie, Herr Leutner, es für berechtigt, zunehmend Eigenverantwortung in diesen Bereichen einzufordern?

Leutner: Der Streit ist natürlich ein verteilungspolitischer. Einerseits wird Eigenvorsorge steuerlich begünstigt, andererseits werden die Bundesbeiträge zur Pensionsversicherung tendenziell reduziert. Das kommt klarerweise den Besserverdienenden zugute. Auch Selbstbehalte treffen kleinere Einkommen stärker.

Fritz: Wir sind uns einig, wir wollen kein privates Gesundheitssystem. Daher hat es keinen Sinn, das amerikanische System zu thematisieren und zu unterstellen, das solle bei uns durch die Hintertür eingeführt werden: Das ist nicht am Tisch. Ich gebe Ihnen recht: Das ist eine Zweiklassen-Medizin; und deshalb ist es ja auch so teuer: die einen können es sich gar nicht leisten, und bei den anderen können sie Geld verdienen. Das ist nicht unser Thema. Unsere Diskussion geht darum, dass das Gesundheitssystem, wie wir es in diesem föderalen Staat aufgebaut haben, zu teuer, zu ineffizient ist. Also lassen wir es in der öffentlichen Hand, aber machen wir Druck, dass die Effektivität steigt. Daher ist die Idee eines Selbstbeitrags - wenn man es gescheit macht - eine gute Sache. Denn wenn wir selber dazu zahlen, sind wir interessiert, dass sich die Leistungen verbessern, wenn nicht, dann nicht; das ist im Prinzip das Gleiche wie bei den Studiengebühren.

Leutner: In Wirklichkeit setzen Selbstbehalte ja nicht bei den Ursachen von Gesundheitskosten an, sondern führen nur dazu, dass die Kosten anders getragen werden: nämlich nicht von einer Solidargemeinschaft, sondern vom einzelnen Kranken. Grundsätzlich müssen wir uns auch darauf einstellen, dass das moderne Gesundheitswesen mit seinen technischen Möglichkeiten im Jahr 2010 nicht mehr um den Preis von 1970 zu haben sein kann. In Zukunft wird und muss uns also die Gesundheit mehr wert sein.

Die Furche: Abschließend die Bitte um ein Resümee: Der Zug fährt Richtung Privatisierung. Was sind dabei für Sie die wichtigsten Punkte, Gefahren wie Chancen?

Leutner: Bei der ÖIAG sehe ich die Gefahr, den Einfluss in wichtigen Bereichen der Industrie, der auch für die Arbeitnehmer entscheidend ist, zu verlieren. Im Bereich der Daseinsvorsorge sehe ich eine gewisse Übereinstimmung mit Lorenz Fritz, dass es zentrale Bereiche gibt, die öffentlich organisiert sein müssen - Bildung, Gesundheit, Pensionen. Wir müssen uns hüten zu glauben, dass der Markt alles von selber löst. Im Wettbewerb führt der Markt zu Konzentrationen, Güter wie Umweltsicherheit müssen auch künftig gemeinsam hergestellt werden, da ist die Privatwirtschaft nicht dazu in der Lage. Der soziale Ausgleich, Menschenwürde, Berücksichtigung der Familie und verschiedenes mehr: das sind alles Bereiche, auf die man privatwirtschaftliche Kategorien nicht unbesehen übertragen kann.

Fritz: Auch wir glauben nicht, dass der Markt alles regeln kann, das haben wir schon immer gewusst. In den öffentlichen Dienstleistungen kann der Markt gar nicht funktionieren, weil man kein Geld verdienen kann. Wir haben in diesem Punkt aber nur dann Übereinstimmung, wenn wir dazu sagen, dass die Effektivität erhöht werden muss. Es kann nicht sein, dass die Kosten dreimal schneller wachsen als die Bevölkerung bereit ist, mit ihren Steuergeldern hineinzuzahlen - wie es im Gesundheitswesen derzeit der Fall ist. Deswegen muss es hier grundlegende Strukturreformen geben. Da sind die am meisten gefordert, die an der Struktur sitzen und sie aufgebaut haben. Das ist ja eine Zeit lang nicht schlecht gegangen. Aber jetzt gibt es neue Herausforderungen für die Selbstverwaltung, und seit gut einem Jahrzehnt ist die neue Aufgabenstellung bekannt, ohne dass es zu einschneidenden Maßnahmen gekommen wäre - statt dessen lässt man die Regierung dilettieren. All diese Fragen sind im übrigen keine Ideologiefragen mehr - es ist eine Zweckmäßigkeitsfrage für uns alle. Daher müssen wir die Rolle des Staates entideologisieren und ganz pragmatisch fragen: Was sind die Kernaufgaben, wo kann man sich Privater bedienen, ohne die Sache aus der Hand zu geben - und was gibt man besser auf?

Das Gespräch moderierte Rudolf Mitlöhner.

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