Raumschiff Enterprise läßt auf sich warten

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Auf Zukunftsprognosen ist wenig Verlaß. Das zeigt ein Blick auf das Kultbuch der sechziger Jahre: "Ihr werdet es erleben".

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Auf Zukunftsprognosen ist wenig Verlaß. Das zeigt ein Blick auf das Kultbuch der sechziger Jahre: "Ihr werdet es erleben".

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Kultbuch und Bestseller am Ende der sechziger Jahre war "The Year 2000", eine Spekulation der damals berühmten Zukunftsforscher Herman Kahn und Anthony J. Wiener - beide vom New Yorker Hudson Institut - über die wissenschaftliche Entwicklung des noch verbleibenden Jahrhunderts. Die deutsche Ausgabe führte den anspruchsvollen Titel "Ihr werdet es erleben".

Rückblickend muß man feststellen, daß nur wenige der Prognosen eingetroffen sind. Entwicklungen, die zu neuem Denken führten und die Welt entscheidend veränderten - Energiekrise und Umweltbewegung, Zusammenbruch der Sowjetunion, Asienkollaps und Europäische Währungsunion konnten die Autoren nicht einmal in Ansätzen erkennen.

Es ist sicherlich ein tückisches Unterfangen, wissenschaftlich begründete Prognosen über gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Entwicklungen auf ihre Aussagekraft zu prüfen, wenn das Ende des Vorhersagezeitraumes gekommen ist.

Überhebliche Beckmesserei, die schadenfroh die Fehleinschätzungen an den Pranger stellt, ist jedenfalls nicht am Platz. Wohl aber kann ein interessanter Rückblick auf die Zeit, in der die Zukunftsvisionen entstanden sind, geboten werden.

Die Ära, die Kahn prägte, war von einem unbändigen Machbarkeitswahn beherrscht, einer an Hybris grenzenden Selbstsicherheit, die heute vielen von uns fremd geworden ist. Wissenschaft und Technik sonnten sich in den spektakulären Erfolgen der elektronischen Datenverarbeitung, des Lasers, der Düsenverkehrsflugzeuge, der Medizin (Antibiotika und Chirurgie, um nur zwei Bereiche zu nennen) sowie der sich entwickelnden Molekularbiologie. Die Schattenseiten dieser epochalen Erfindungen wurden nicht gesehen oder bewußt ausgeblendet. Die Frage, in welchem Ausmaß der Mensch den sich anbahnenden Veränderungen anzupassen vermag, wurde nicht gestellt. Auf die Erfahrungen von Goethes "Zauberlehrling" wurde verzichtet.

Kernaussage der ebenso optimistischen wie selbstbewußten Zukunftsforscher war der erwartete Eintritt in das sogenannte postindustrielle Zeitalter, dessen "Pro-Kopf-Einkommen etwa fünfzigmal höher sein würde als in der vorindustriellen Periode". Bevölkerungskontrolle und ein einigermaßen stabiles Sicherheitssystem würden sich durchsetzen, ohne daß es eine "Weltregierung" gäbe. Kahn und Wiener erwarteten, daß die Gesellschaft dann durchgehend kybernetisch gesteuert wird. Die nationalen Interessen würden langsam abgebaut. Permissive Grundsätze erlangten zentrale Bedeutung, das Leistungsprinzip stünde nicht mehr an erster Stelle, die freie Marktwirtschaft trete gegenüber der öffentlichen Hand und der "sozialen Gesamtplanung" zurück. Neuerungen gingen weniger stark von der Privatwirtschaft aus. Viele Tätigkeiten würden eher freiwillig und aus Vergnügen ausgeübt, der Faktor der finanziellen Entschädigung gelange in den Hintergrund. Mindesteinkommen seien gewährleistet, ausreichende Wohlfahrtseinrichtungen würden für soziale Absicherung sorgen.

Atomkraft gewinnt Das Buch nennt hundert technische Neuerungen, die für das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts als "sehr wahrscheinlich" vorausgesagt werden.

Richtige Voraussagen bezogen sich auf die rasante Entwicklung der Computerindustrie, verbesserter Kommunikationsmittel (also Fax und Datex-Einrichtungen) sowie Heimfernsehfilme (Videokameras und -recorder). Der Verwendung von Robotern und Maschinen, Laser und besonders widerstandsfähigen Werkstoffen wurde große Bedeutung attestiert.

Auf medizinischem Gebiet erwarteten die Wissenschaftler vom Hudson Institut neue "billige, bequeme und verläßliche Methoden" der Geburtenkontrolle, große Fortschritte bei der Verpflanzung von menschlichen Organen, bei Psychopharmaka und bei Medikamenten gegen bestimmte Formen der Vergreisung sowie in der Entwicklung mechanischer und chemischer Methoden zur Verbesserung der Denkfähigkeit des Menschen.

Billige Transportmöglichkeiten für Menschen und Fracht, etwa durch Containerschiffe, würden weltweit erschlossen, neue Luftfahrzeuge (Großraum- und Überschalldüsenflugzeuge) gebaut und mehrfach verwendbare Raketen für die Raumfahrt entwickelt. Relative wirksame Bodenluftabwehrraketen kämen zum Einsatz.

Die allgemeine Anwendung von Atomkraftwerken stand für die Zukunftsforscher außer Zweifel. Die Möglichkeit eines Widerstandes gegen diese Form der Energiegewinnung wurde nicht einmal angedeutet. Daher lagen hier die Voraussagen besonders falsch. Daß Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Staaten im Jahr 2000 nicht weniger als 370.000 Megawatt durch Atomkraftwerke gewinnen würden, erweist sich heute als pure Phantasie. Dieser Wert liegt höher, als die weltweit vorhandene AKW-Leistung ausweist.

Künstliche Träume Übertriebene Erwartungen sind insbesondere auch bei der Behandlung der menschlichen Psyche festzustellen: Dies betrifft vor allem die praktische Anwendung direkter elektronischer Kommunikation mit dem Gehirn und dessen artifizielle Reizung, künstlich angeregte und geplante, vielleicht programmierte Träume, auch physiologisch unschädliche Methoden für unmäßigen Genuß sowie für weitgehende und dauerhafte kosmetische Veränderungen (Gesichtszüge, Figur, vielleicht Hautbeschaffenheit, sogar Körperbau); erwartet wurde auch eine relativ wirksame Appetit- und Gewichtskontrolle.

Moderne und verläßlichere Erziehungs- und Propagandamethoden zur Beeinflussung des menschlichen Verhaltens im Privatleben und in der Öffentlichkeit würden mit neuen Wegen und Institutionen für die Erziehung von Kindern Hand in Hand gehen.

Als sehr wahrscheinlich haben die Zukunftsforscher wirksam und möglicherweise weitverbreitete Methoden der Überwachung, Steuerung und sonstiger Kontrollen von Einzelpersonen oder Organisationen bezeichnet - das Jahr 1984 läßt grüßen.

Die technische Phantasie durfte sich bei Vorstellungen von einer "gewissen Beeinflussung des Wetters und Klimas", planmäßigen "Ackerbau" auf dem Meeresboden, von Riesenunterseebooten, bewohnten Unterseestationen, "vielleicht sogar Unterseekolonien" ausleben. Die Anwendung von im Weltraum erprobten Lebensmöglichkeiten im irdischen Bereich und interplanetarische Reisen ergänzen das Bild.

Häuser aus Kunststoff Eine verfeinerte und komplizierte Architektur (zum Beispiel geodäsische Kuppeln, Phantasiebauten, Häuser mit aufgeblasenen Kunsthäuten und ähnliches) wurde gleichfalls erwartet. Leider ist aber auch die Hoffnung auf eine hochqualifizierte ärztliche Betreuung für unterentwickelte Gebiete Utopie geblieben.

Eine richtige Einschätzung trafman dagegen hinsichtlich des Tourismus, Gott sei Dank nicht bei Atomwaffen, deren europäische Produktion er mit 70.000 pro Jahr angab.

Bei der Vermarktung des Buches wurde immer wieder auf den extrem hohen Intelligenzquotienten von Herman Kahn hingewiesen. Wir haben inzwischen gelernt, daß ein IQ von 200 nicht genügt, die Zukunft vorauszusagen, ja nicht einmal, um die Grenzen der Futurologie zu erkennen. Die Crux aller Zukunftsmaßnahmen ist, daß sie im wesentlichen nur von bereits eingetretenen Entwicklungen ausgehen und auf die nächsten Jahrzehnte extrapolieren kann. Die Annahme aber, daß alles so weitergeht wie bisher, ist nach all unseren Erfahrungen falsch: In der Welt geschieht immer etwas Unvorhergesehenes.

Besonders problematisch wird es freilich, wenn vorgefaßte Überzeugungen die Erwartungen in eine bestimmte Richtung lenken. Wie groß die Gefahr einer totalen Fehleinschätzung dann ist, zeigt das berühmte Wort Chruschtschows, der die Behauptung aufstellte, seine Sowjetunion werde bis 1972 die USA in Produktion und Lebensstandard übertreffen.

Auch auf von Emotionen beherrschte Prognosen, ob Schreckensvisionen der Pessimisten oder fortschrittsgläubige Heilserwartungen der Optimisten, ist wenig Verlaß. Man kann mit einiger Sicherheit nur annehmen, daß die Welt in absehbarer Zeit weder untergehen noch zu einem Schlaraffenland werden wird.

Viel mehr ist in der Zukunftsforschung nicht drin.

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