"Raus aus dieser Falle!"

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Reinhart Wolff, Professor für Sozialarbeit und Sozialpädagogik, über neue Wege im Kinderschutz und über den Kampf zwischen Sozialarbeit mit mehr Kontrolle und einer mit mehr Beteiligung.

Dramatische Todesfälle von Kindern durch Misshandlung haben in Deutschland und Österreich zu einer Umbruchphase in der sozialen Arbeit geführt. Man sei am Scheideweg, meint der deutsche Experte Reinhart Wolff in St. Virgil.

Die Furche: Professor Wolff, werden in der Jugendwohlfahrt neue Wege eingeschlagen?

Reinhart Wolff: Ja, es ist zu einem großen Umbruch in modernen Gesellschaften gekommen. Das bedeutet, bisherige Formen repräsentativer Demokratie sind nicht mehr ausreichend. Die Eigentätigkeit und die Sicht auf Bürger als Akteure ihrer Entwicklung spielen eine viel stärkere Rolle. Das ist eine Revolution, die auch die Strukturen des modernen Sozialstaates verändert. Da sind wir noch voll im Umbruch; wir haben noch nicht ganz verstanden, was es heißt, dass moderne Gesellschaften in ihrer Vielfalt auf strukturelle Beteiligung setzen.

Die Furche: Das zeigt sich auch in der Sozialarbeit und Jugendwohlfahrt?

Wolff: Ja. Diese stehen vor der Herausforderung, Kinder und deren Eltern als berechtigte Personen wahrzunehmen, mit denen man Veränderungsprozesse nur machen kann, indem man sie einbezieht. Da gibt es im Augenblick einen heftigen Kampf in vielen Gesellschaften. Wird moderner Kinderschutz zu einer modernen Risiko- und Sicherheitsinterventionsbehörde mit Fremdmeldern und Erfassungssystemen von Familien und mit stigmatisierenden Zuschreibungen aufgrund von Fehlverhalten der Eltern? Oder kann die Gesellschaft im Umfeld von Familien und auch in den professionellen Systemen ein hilfreiches Milieu bilden, das von Familien im Konflikt genützt wird.

Die Furche: Wer ist dabei, diesen Kampf zu gewinnen?

Wolff: Das ist noch nicht entschieden. In Deutschland sind wir an einem Scheideweg. Wir müssen uns entscheiden, ob wir Familien von Anfang an unterstützen wollen und ob wir Unterstützungssysteme aufbauen, die tatsächlich als hilfreich wahrgenommen und auch geschätzt werden. Wir erleben eine große Spaltung in unterschiedlichen Lebenslagen und Schichten. Es gibt keine Haltekräfte mehr innerhalb sozialer Orte. Daher brauchen wir neue Orte, wo die Vergesellschaftung von Erziehung, Bildung und Gesundheit tatsächlich erlebt wird, die nicht von außen kommt, sondern die die Menschen selber machen - unterstützt von gut qualifizierten Fachpersonen.

Die Furche: Welche Rolle spielen hier jene dramatischen Misshandlungsfälle, die es in Deutschland und Österreich gegeben hat?

Wolff: Es hat sich daraus ein Panik erzeugendes Infotainment entwickelt. Die Leute empören sich, grenzen sich ab, es kommt aber kaum zur echten Berührung. Diese einzelnen Fälle waren aber für die Politik und die Professionssysteme von großer Bedeutung. Im Zuge der Skandalisierung sind Fachleute in den Blickpunkt der Öffentlichkeit geraten und werden angeklagt, sodass manche Fachleute in sozialen Diensten und den Jugendwohlfahrten den Eindruck haben, dass sie mit einem Bein im Knast stecken. Sozialarbeiter müssen ihre Arbeit unter diesem Himmel skandalisierter Kinderschutzfälle machen und sehen sich ständig unter Druck.

Die Furche: In Deutschland ist man dabei, aus Fehlern zu lernen. Sie leiten das Forschungsprojekt "Aus Fehlern lernen - Qualitätsmanagement im Kinderschutz" im Nationalen Zentrum für Frühe Hilfen im Deutschen Jugendinstitut. Was wird getan?

Wolff: Das Projekt "Aus Fehlern lernen" umfasst 42 Kommunen mit deren Jugendämtern, die fast zehn Prozent aller deutschen Kinder betreuen. Wir haben einen doppelten Ansatz gewählt: Wir versuchen, mit diesen Mitarbeitern den Stand der Dinge zu untersuchen und dann systematisch den Blick auf Schwierigkeiten, Belastungen und auf Fehler zu richten, aber auch Erfolge werden untersucht. Wir versuchen, die Fachleute zu unterstützen, zusammen mit Eltern besser zu werden.

Die Furche: Sie haben als Beispiel einer veränderten Sozialarbeit angeführt, dass sich Sozialarbeiterinnen in einer Zeitung abbilden haben lassen mit der Botschaft: Wir sind eure Sozialarbeiterinnen! Ist das der richtige Weg?

Wolff: Ja, weil sich viele Fachleute in der Sozialarbeit mit ihrer Arbeit fehlidentifizieren. Sie fühlen sich eher als dequalifizierte Fachkräfte für arme Leute. Der berühmte englische Theoretiker des Sozialstaates Richard Titmuss hat immer gesagt: "Services for poor people tend to be poor services." Aus dieser Falle müssen wir raus.

Die Furche: Noch halten sich Klischees hartnäckig: jene über Jugendwohlfahrts-Mitarbeiter und über deren Klienten. Warum?

Wolff: Es ist die Frage, ob man mit der Vergangenheit bricht. Dieser Bruch wurde noch nicht ganz vollzogen trotz einiger Reformanstöße. Man hat zum Beispiel in Österreich lange gezögert, die Ausbildung der Sozialarbeit auf Hochschulniveau zu heben, es fehlt noch immer an guter Forschung.

Die Furche: Wann ist für Sie das Projekt "Aus Fehlern lernen" erfolgreich?

Wolff: Wenn es dazu beiträgt, dass Kinder nicht mehr schwer misshandelt werden und zu Tode kommen. Aber auch, wenn Hilfeformen erfolgreicher sind und besser akzeptiert werden. Wenn die betroffenen Familien sagen: Das ist das größte Glück, das uns passiert ist. Und nicht: Das hat uns gerade noch gefehlt! Man kann nicht helfen, wenn man nicht willkommen ist, und wenn Fachleute keine Freude an der Arbeit haben. Wir müssen ein neues Rollenprofil schaffen und stärken. Das geht etwa durch Einbeziehen der Eltern und Fehleranalysen. Zum Beispiel, indem ein Jugendamt einmal alle Klienten zu einem Treffen einlädt. Das wird zu einer Veränderung der Gesellschaft führen, manche Politiker fangen an, das zu begreifen.

* Das Gespräch führte Regine Bogensberger

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