Rhythmus des Lebens

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Marianne Gronemeyer über das Verschwinden der Rituale als Symptom einer Gesellschaft, in der alles "einschaltbar" ist - Geburt und Tod inklusive.

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Marianne Gronemeyer über das Verschwinden der Rituale als Symptom einer Gesellschaft, in der alles "einschaltbar" ist - Geburt und Tod inklusive.

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Sie gilt im deutschen Sprachraum als eine führende gesellschaftskritische Stimme. Für Marianne Gronemeyer, Publizistin und bis zu ihrer Emeritierung 2006 Professorin für Erziehungs- und Sozialwissenschaften in Wiesbaden, macht die Konsumge sellschaft auch den Ritualen den Garaus.

Die Furche: Welche Bedeutung haben Rituale im Leben der Menschen heute?

Marianne Gronemeyer: Zunächst einmal löst das Wort "Ritual" in mir positive Empfindungen aus: Meine Kindheit war von Ritualen geprägt. Unsere Mutter hat sich sehr viel Mühe gegeben, uns Ritualisierungen im Sinn von Rhythmisierungen unseres Kinderlebens zu schenken. Für mich hängt Ritual sehr stark mit Rhythmen zusammen, mit Formen von Wiederholung: Es ist ein sehr entscheidendes Element des Rituals, dass etwas erkennbar wiederkehrt. Und das waren in meiner Kindheit jahreszeitliche Rhythmen, die noch dem bäuerlichen Milieu entstammten - meine Mutter kam aus Pommern, einer Bauernfamilie, sie hat diese Rhythmen dann in der Stadt wohl sehr vermisst. Sie hat aber versucht, unsere Kindheit unmittelbar nach dem Krieg so viel wie möglich rhythmisch zu gestalten. Wir sind so mit einem sehr starken Gefühl dafür aufgewachsen, was jetzt dran ist, was jetzt in der Natur wächst: Die Zeit der Heideblüte war eine völlig andere Zeit als die Zeit der Veilchen oder der Maiglöckchen im Wald. Es wurden andere Ziele angesteuert, jedes Wochenende hatte seine eigene Farbe. Im Nachhinein betrachte ich diese Rhythmisierung des Lebens als das Wichtigste, das uns unsere Mutter mitgegeben hat.

Die Furche: Und wenn Sie nun auf die jungen Menschen heute schauen

Gronemeyer: dann stelle ich fest, dass das gar keine Rolle mehr spielt. Natürlich gibt es auch heute Wiederholsamkeit. Aber ich kann nicht mehr sagen, wie sehr sich die Wiederkehren, die heute zelebriert werden, von Gewohnheiten unterscheiden. Sie haben mit Sitte und Brauch nichts mehr zu tun und sind nicht mehr in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang eingebunden. Meiner Beobachtung nach erweisen sich eigentlich alle modernen Rituale als konsumistisch, sie sind Konsumartikel. Das würde ich in der Tat als Verfall bezeichnen.

Die Furche: Was ist da verlorengegangen?

Gronemeyer: Entscheidend am Ritual ist, dass es sich um eine Nahtstelle zwischen der Vergangenheit und dem Zukünftigen handelt. Wie soll ein Ritual ohne Erinnerungstracht zustande kommen? Ohne dass sich darin etwas von einer gemeinsamen Geschichte ausdrückt? Von bewegenden kulturellen Ereignissen? Von umstürzenden Erfahrungen des Lebens - seien sie guter oder schlechter Art? Eigentlich leben wir in einer erinnerungslosen Gesellschaft, einer Gesellschaft, die sich ihrer Vergangenheit entschlägt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ritual da noch irgendeinen Sinn macht. Manche Leute würden sagen, es ist ein Ritual, wenn sie Komasaufen, oder wenn sie auf den Egotrip gehen. Ich vermag auch nicht zu unterscheiden, was das Ritual von Sitte, Brauch, Gewohnheit oder auch schlechter Angewohnheit unterscheidet. Das ist nicht trennscharf gegeneinander abzugrenzen. Die Furche: Der Rhythmus ist also zentral fürs Ritual? Gronemeyer: Ja. Ritual hat für mich mit etwas zu tun, was ich nicht an ein Gerät oder an ein Computerspiel delegieren kann, sondern was meine leibliche Anwesenheit erfordert und die leibliche Anwesenheit derer, die sich in diesem Ritual zusammenfinden. Eine Entkörperung des Rituals würde bedeuten, dass es nicht mehr existiert.

Die Furche: Hat es auch mit Begrenzungen zu tun? Der Rhythmus des Lebens oder des Jahres wie das Ritual des Hineingehens ins Weihnachtsfest, benötigt doch auch Begrenzung. In den Konsumtempeln beginnt Weihnachten ja schon Mitte September und nicht erst am 24. Dezember

Gronemeyer: Rituale sind pünktlich, sie sind zeitgebunden, sie haben ihren Augenblick, den Kairos. Der Advent kann nicht vorweggenommen werden. Ihm muss auch die dunkle Zeit des Totengedenkens vorausgegangen sein. Für mich war es eine ganz entscheidende Erfahrung, dass der Totensonntag vorbei war,...

DIE FURCHE:... der in der protestantischen Tradition der letzte Sonntag vor dem Advent ist,...

Gronemeyer:... dass die Gräber zugedeckt wurden für den Winter: Für mich hatte diese Zeit viel mit Todesfurcht zu tun. Davor wurde nicht mit dem Weihnachtsgebäck begonnen, davor wurde keine Kerze angezündet. Die Dunkelheit musste ausgehalten und durchschritten werden. Das gehörte einfach dazu -und musste auch nicht groß annonciert werden. Es gehörte dazu, damit der Advent seinen Hinweis auf kommendes Licht erst entfalten konnte. Ohne eine solche Begrenzung, ohne dass man dem Leben seine Zeit gibt, ohne die Rückerinnerung, die mitgenommen wird in die Zukunft auf das Mögliche hin, was kommen wird, ist für mich das Ritual nicht denkbar.

DIE FURCHE: Und das finden Sie in der Gesellschaft nicht mehr vor?

Gronemeyer: Die Grundmelodie der konsumistischen Gesellschaft lautet, dass jederzeit alles da ist. Es handelt sich also immer um eine Bezwingung der natürlichen Gegebenheiten, die den Triumph bringt - man hat Tomaten das ganze Jahr, man hat keinerlei Sorge zu tragen. Diese Idee, dass alles zu jeder Zeit verfügbar ist, macht Ritualisierung unmöglich. Der Rhythmus, von dem ich spreche, zeichnet sich auch durch Zeiten des Mangels und der Entbehrung aus und auch durch Zeiten der Fülle. Es gehört zum Ritual, dass man die Zeiten der Fülle feiert. Die Zeiten im Jahr, die etwa meine Mutter gefeiert hat, hatten das immer auch mit einem Sieg über die Natur zu tun - in einem ganz anderen Sinn als heute, wo die Natur keine Rolle spielen darf. Damals waren etwa die Flachs-Ernte oder das Flachs-Brechen Zeitpunkte im Rhythmus des Einsammelns, zu dem Feste gefeiert wurden. Und dazu gab es dann bestimmte Rituale, die diesen Festen ihren ganz speziellen Charakter verliehen haben. Es war auch ein Versuch, die Befindlichkeit einzufangen, die man im Laufe eines Jahres oder auch eines Lebens erlebte, es gibt ja auch Lebensrituale, die an bestimmten Nahtstellen der eigenen Lebensgeschichte ihren Sitz haben -Initiationsriten, Familienfeiern, das Heiraten usw. Man stellt aber fest, dass der Zugang moderner Menschen zu derartiger Ritualistik gebrochen ist.

DIE FURCHE: Haben Rituale etwas mit Religion zu tun?

Gronemeyer: Nicht unbedingt. Das Ritual ist per se nicht etwas Befreiendes oder Gutes oder Bewahrendes

DIE FURCHE: es muss auch die Religion nicht etwas Befreiendes oder Gutes sein...

Gronemeyer: das Ritual hat jedenfalls damit zu tun, dass eine Verbindung zu etwas nicht Alltäglichem hergestellt wird. Es hebt die Alltäglichkeit aus ihrem Einerlei heraus und setzt Akzente, zu denen sich bestimmte Aufgaben des Erinnerns zusammenschließen. Das ist der Inhalt des Rituals: ein Bezug zu etwas, was mehr ist als mein erbärmliches, kleines bisschen Ich.

DIE FURCHE: Es gibt aber, wenn man nicht zuletzt den Buchmarkt anschaut, offenbar Bedürfnisse danach, so etwas wie Rituale wieder zu etablieren.

Gronemeyer: Ein Ritual kann man nicht aus der Hosentasche zaubern. Wenn es nicht einen Anlass gibt, der in die Vergangenheit zurückreicht, der mit den Ahnen verbindet, wenn es nicht etwas ist, das unser Gespräch mit den Toten eröffnet, das etwas von einem kulturellen Gedächtnis hat, sollten wir es nicht Ritual nennen. Man kann dazu Gewohnheit oder vielleicht sogar Kult sagen, aber Ritual ist ohne diese Dimension der Tiefe der eigenen Geschichte nicht vorstellbar. Eine Gesellschaft, die so sehr von der Vorstellung einer machbaren Zukunft infiziert ist wie die unsere, ist dem Rituellen abgeneigt. Das Gespräch zwischen den Generationen ist das Mindeste an Voraussetzung dafür, dass es Rituale geben kann. Vielleicht haben sich die Verhältnisse so verselbstständigt, dass diese Art von Verständigung über die Generation hinweg und der Versuch, den Reichtum, der sich in einer Generationenvielfalt bietet, auch zu nutzen, zum Erliegen kommt. Es gibt keinen guten Nährboden für dies Art von Erfahrungsweitergabe.

DIE FURCHE: Ist aber nicht zumindest an den für den Einzelnen existenziellsten Punkten immer noch etwas da, was in diese Richtung geht? Wie Menschen heiraten, oder wie Menschen sich von Menschen beim Tod verabschieden, auch bei Momenten der Initiation: Sind nicht gerade da zumindest Spuren von Ritualen präsent?

Gronemeyer: An diesen Nahtstellen wird besonders deutlich, wie armselig wir heute dastehen. Der Aufwand, der heute für Hochzeiten getrieben wird, ist umgekehrt proportional zur kommenden Ehe. Das sind ja keine Lebensentscheidungen mehr, sondern der Versuch, an etwas Anteil zu nehmen, was noch geahnt wird, um Möglichkeit, Verbindlichkeit und Orientierung im Leben zu finden. Aber das ist sehr von konsumistischen Grundstrukturen überwölbt, dass ich darin kein Ritual mehr entdecken kann. Nehmen wir da die Geburt - die wird heute eingeschaltet: Sonntagskind gefällig? Geburt wird gemacht. Das ist nicht mehr etwas, das Anlass bietet, sich rituell dazu zu verhalten. Es hat nichts mehr davon, dass etwas in mein Leben einbricht, das stärker ist als ich. Die Geburt ist, was ich in der Hand habe, oder was sich der Medizinapparat als etwas zu Beherrschendes angeeignet hat.

DIE FURCHE: Und der Tod... ?

Gronemeyer: erst recht! Der Tod wird eingeschaltet, das Leben wird abgeschaltet: Das ist das, was Menschen heute denken. Das alte Ritual hat ein Tabu über die Selbsttötung bedeutet. Dieses Tabu wird gerade abgeschafft, sodass sich jeder am Ende des Lebens fragen muss, ob er noch dasein darf. Die Alten sind ja mit nichts so sehr beschäftigt wie mit dem Gedanken: Ich will ja niemandem zur Last fallen! Der Tod steht also unter der ökonomistischen Erwägung, wieviel Geld man in ein Lebensende noch investieren will. Und wenn man dann noch überlegt, dass das Tabu der Selbsttötung gebrochen ist, dann haben wir ein perfektes Szenario für einen verwalteten Tod, der nicht mehr aus der Zukunft auf uns zukommt, sondern der hergestellt wird. Insofern bin ich tatsächlich sehr skeptisch, ob es noch einen Nährboden für Rituale gibt, der auf etwas reagiert, das kommt, das uns überrascht, dem wir nicht gewachsen sind, das wir nicht in unsere eigene Verfügungsgewalt bekommen.

DIE FURCHE: Wenn Rituale verschwinden, ist das nun bloß Symptom der Gesellschaft, oder muss man daran arbeiten, dass sie wieder möglich sind?

Gronemeyer: Ich bin nicht sehr zuversichtlich, dass man sich einen Ruck gibt und sagt, es macht uns unglücklich, keine Rituale mehr zu haben, und weil es jeden armselig macht und verkümmert, müssen wir versuchen, es herzustellen. Das ist genau der Modus, wie wir alles angehen: dass wir es herstellen. Veränderung kommt dadurch, dass wir es "herstellen", dass wir es "machen". Aber so kann man sich dem Ritual nicht nähern. Es ginge gerade darum, die Kräfte zu stärken, die aus sich heraus etwas wachsen lassen können. Und nicht, dass man wieder einer Gruppe von Experten überlässt, Rituale zu erzeugen -dazu wären ja die Kirchen besonders berufen. Aber wehe den Pastoren, die sich an diese Arbeit machen! Die haben sich auf eine falsche Spur begeben!

DIE FURCHE: Wie soll sich Religion oder Kirche dann verhalten?

Gronemeyer: Eine Veränderung könnte nur dann geschehen, wenn sich die Kirche ihrer Macht begibt. Wir haben es mit der Frage der Ohnmacht der Kirche zu tun. Der Theologe und Kulturkritiker Ivan Illich hat schon in den 1970er Jahren den denkwürdigen Satz gesagt: Die Kirche muss sich von ihrer Macht, Gutes zu tun, verabschieden. Das ist für mich ein unglaublicher Satz. Das heißt auch, sich von der Macht zu verabschieden, die schmerzlich vermissten Rituale wieder zu etablieren. Sie müsste sich auch von allen staatstragenden Funktionen verabschieden, von den Kindergärten, Schulen und von allem, was der Staat ebenso gut kann wie die Kirche. Sie müsste ohn-mächtig werden. Dann würden sich Rituale von selber einstellen. Rituale müssten sich einfinden können und nicht gemacht werden. Ich gebe dem Herstellen von Ritualen keine Zukunft, oder noch schlimmer: dem Angeboten-Werden - Ritualistik im Supermarkt der religiösen Angebote. Das wäre die fatalste Entwicklung.

DIE FURCHE: Trifft das Angebote von "Ritualen", bei denen man in den Wald geht, sich im Kreis um einen Baum setzt und intensiv atmet, ebenso, wie in ein Kloster zu gehen?

Gronemeyer: Sobald es ein Angebot ist, das in einer Dienstleistungsbroschüre zu finden ist, ist es nur noch peinlich. So ein "Ritual" um den Baum herum, da mögen Einzelne wunderbare Dinge erleben, aber als Erwachsenenbildungsangebot, für das man dann pro Wochenende 300 Euro bezahlt, finde ich es peinlich. Es ist marktorientiert. So wird noch der letzte Winkel an Begegnung, den wir noch haben, auch in die Dienstleistungsbranche eingefüttert und mit Milliardenumsätzen versehen.

DIE FURCHE: Und das Beispiel des Klosters?

Gronemeyer: Auch da geht es um die Ebene einer persönlichen Begegnung und nicht um eine Dienstleistung - etwa wenn jemand im Kloster Gemeinschaft erlebt oder eine Gruppe findet, die sagt: Hier kannst du bleiben! Oder wenn eine Einladung ausgesprochen wird: Ich sehe, dir geht es nicht gut, sei mit uns - die nächste Zeit, solange du brauchst -, wir werden dich aufnehmen. Das ist etwas anderes, als sich konsumistischer Mittel zu bedienen und zu sagen: Wir als Kloster machen ein Angebot für die geplagten Menschen, die für ein bestimmtes Geld eine Klosterlebenserfahrung bekommen.

Das Gespräch führte Otto Friedrich

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