Rituale bis zum umfallen

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Der Mensch ist ein rituelles Wesen, und das Bedürfnis nach Initiation ist gleichsam in unserer menschheitsgeschichtlichen DNA verankert.

Völkerkundler haben quer über den Globus eine Fülle von Initiationsriten dokumentiert, die oft eine markante Gemeinsamkeit aufweisen: Wer zum Mann wird, muss körperliche Schmerzen ertragen.

Ich erinnere mich, als junger Student einmal bei einem so genannten "Wett-Trinken" mitgemacht zu haben. Es ging darum, vor Party-Publikum einen halben Liter Bier möglichst schnell hinunter zu leeren. Gewonnen hat wer anderer. Die Gesellschaft war eher unsympathisch, der Abend eigentlich grässlich. Auch heute verstehe ich nicht, wie man auf die absonderliche Idee kommen kann, ein Genussmittel ohne jeglichen Genuss zu sich zu nehmen. Für viele Burschenschafter ist das ein altbekanntes Ritual: Das Bier wird dort nicht genossen oder zivilisiert getrunken, sondern vielmehr "durch den Körper gepumpt", wie Günther Haller in einem Presse-Dossier erläutert. In der Tradition der Burschenschaften sind auch die Trinkgelage geregelt. Sie bekräftigen die Zugehörigkeit und enden für manchen Neuling, der durch ein "Bierduell" betrunken gemacht wird, im Desaster. Doch selbst das anschließende Erbrechen gehört hier zum rituellen Programm.

Existenzielle Grenzüberschreitungen

Seit den Urzeiten der Menschheitsgeschichte ist der Gebrauch von Rausch-und Genussmitteln ein gemeinschaftliches Ritual, das die Gruppe zusammenschweißt. Dieser Gebrauch ist oft an bestimmte Zeiten und Orte gebunden und erfolgt mitunter in einer ausgewählten Personengruppe. So auch in den Burschenschaften. Wer hier Zutritt erhalten will, muss überhaupt eine ganze Reihe von Ritualen durchlaufen. Dazu zählt im Falle einer schlagenden Burschenschaft auch das berühmte Eintrittsritual der Mensur: In der Inszenierung eines Fechtduells wird hier unter Beweis gestellt, dass man imstande ist, selbst körperliche Verletzungen stoisch in Kauf zu nehmen. Ärgere Verletzungen werden heute durch Schutzkleidung vermieden -der "Schmiss", die Narben im Gesicht aber sind der beredte Ausdruck von Stärke und Männlichkeit. Ebenso wie das exzessive Trinken, das man wie eine Prüfung auf sich zu nehmen hat, um den Ekel zu überwinden und damit die eigene Standhaftigkeit zu beweisen.

Für den Außenstehenden mögen diese Verhaltensformen vielleicht nur Kopfschütteln hervorrufen, wie bei einem jungen Studierenden, der unerwartet in ein "Wett-Trinken" hineingerät. Doch ein geschultes Auge könnte hier rasch Verbindungslinien in eine längst vergangene Welt erkennen, oder einen Konnex zu weit entlegenen Kulturen herausarbeiten. Völkerkundler haben quer über den Globus eine Fülle von Initiationsriten dokumentiert, die oft eine markante Gemeinsamkeit aufweisen: Wer zum Mann wird, muss Mutproben absolvieren und körperliche Schmerzen ertragen. Durch Wunden und Narben wird die Aufnahme in die männliche Welt besiegelt. Die archaischen Rituale sind hier keineswegs zimperlich, egal, ob dabei Zähne ausgeschlagen oder Brandwunden zugefügt werden, ob die Haut skarifiziert oder sogar die Harnröhre aufgeschnitten wird.

Im sakral geprägten Weltbild unserer Urahnen markiert die Initiation den Übergang in eine andere Seinsweise: zum Beispiel von der Kindheit zur Jugend, von der Gruppe der Junggesellen zu jener der Familienväter, oder bei der Aufnahme in spezifische Männer-,"Weiber-" oder Geheimbünde, wie der Religionshistoriker Mircea Eliade in seinem Werk "Das Heilige und das Profane" schreibt. Eliade war überzeugt davon, dass es in der Geschichte der Menschheit ein universales Bedürfnis nach heiligen Zeiten und Orten gibt -und nach Initiation. Diese führe stets dazu, in Mysterien eingeweiht und dadurch wissend, also "geistig reif" zu werden. Ebenso ging der berühmte Religionsgelehrte davon aus, dass trotz der radikalen Säkularisation in einer zunehmend profanen Welt "die aufgegebenen religiösen Verhaltensweisen in unbestimmten Erinnerungen und Sehnsüchten immer noch fortleben".

Auch der französische Ethnologe Arnold van Gennep hat mit seinem Hauptwerk "Übergangsriten" einen wichtigen Beitrag zur Ritual-Theorie geleistet. Er unterschied eine Trennungsphase, in der man sich vom alten Ort oder Zustand löst, eine Schwellenphase, in der man zwischen zwei Welten schwebt, sowie die Angliederung, wo die Integration in den neuen Ort oder Zustand erfolgt. Die drei Phasen werden oft als Tod, Umwandlung und Wiedergeburt dargestellt. Der Übergang ist also ein markantes, herausragendes Geschehen; die Riten werden oft als räumliche Grenzüberschreitungen gestaltet. Am Ende wird das Gruppenmitglied in seinem neuen Status gefestigt, etwa indem neue Kleidung und Symbole -zum Beispiel die Kappen und farbigen Bänder einer Burschenschaft -angelegt werden.

Verlust der Zwischenräume

Angesichts der Nachweise quer durch alle Kulturen kann man getrost behaupten, dass der Mensch ein rituelles Wesen ist und dass das Bedürfnis nach Initiation in unserer menschheitsgeschichtlichen DNA verankert ist. Doch der moderne Mensch sieht sich mit einem zunehmenden Schwund an Übergängen konfrontiert. Hier ist nicht nur die epochale Profanisierung gemeint, die Mircea Eliade beschrieb, sondern auch der zeitgenössische Weg in die "24-Stunden-Gesellschaft". Nicht nur die ganz anderen Zeiten und Räume sind seltener und schwächer geworden, auch im ganz normalen Alltag der Leistungs-und Konsumgesellschaft werden die Übergänge schleichend eliminiert. Die Pausen verschwinden, die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit lösen sich immer mehr auf. Sogar der Biorhythmus gerät unter Druck: "Wir schlafen nicht", lautet ein exemplarischer Buchtitel von Kathrin Röggla, in dem die rastlose Arbeitswelt im digitalen Kapitalismus dargestellt wird. Bezeichnend sind auch die nahtlosen Übergänge im Programm fast aller Radio-und Fernsehsender: Die Zwischenräume wurden dort schon längst ausgemerzt.

Jugendliche brauchen Rituale, um erwachsen werden zu können, so ein häufiger Befund. Erwachsene brauchen Rituale, um reifen zu können. Viele junge Menschen suchen unbewusst nach Initiationserfahrungen -und landen mitunter im Männerbund einer Burschenschaft. Deren Faszination speist sich niemals nur aus dem weltanschaulichen Programm. Vielmehr ist es auch die rituelle Struktur, die als Kontrast zum nivellierten Alltag attraktiv erscheint.

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