Scham - © llustration: iStock/ZU_09 (Detail)

Schämen wir uns? Schämen wir uns!

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Über ein Empfinden, das bedrückt oder befreit – und Bedingung ist für eine Veränderung des Antlitzes des Selbst und der Gesellschaft.

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Über ein Empfinden, das bedrückt oder befreit – und Bedingung ist für eine Veränderung des Antlitzes des Selbst und der Gesellschaft.

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Was bedeutet es, Scham zu empfinden? Scham, etwas getan und anderes nicht getan zu haben? Scham angesichts der eigenen Imperfektion?

Greift man weit in die Geschichte des Menschen zurück, zumindest auf die wirkmächtigen, tradierten Mythen jüdisch-christlich-islamischer Prägung, steht am Beginn des Menschen als Mensch eben sie: die Scham. Es war jene Adams und Evas, die angesichts ihres Vergehens im paradiesischen Garten plötzlich ihre Nacktheit, ihre Getrenntheit und ihr Verschiedensein entdeckten – und sich schämten. „Da wurden beiden die Augen geöffnet und sie erkannten, dass sie nichts anhatten. Sie hefteten Feigenblätter aneinander und machten sich Schurze.“ (Gen 3,7)

Der Philosoph und Psychoanalytiker Erich Fromm glaubte in diesem elementaren biblischen Mythos das erstmalig empfundene Bewusstsein des Menschen zu erkennen, nicht nur getrennt und verschieden voneinander zu sein – sondern zugleich (noch) unfähig zur Liebe. „Das Bewußtsein der menschlichen Getrenntheit ohne die Wiedervereinigung durch die Liebe ist die Quelle der Scham. Und es ist gleichzeitig die Quelle von Schuldgefühl und Angst.“

Notwendigkeit der Katharsis

Scham konnotieren wir nicht nur wegen dieses biblischen Archaikums grundsätzlich negativ. „Im Zentrum der Scham steht der Blick des Anderen auf uns selbst. Und ohne den Blick des Anderen können wir nicht leben“, sagt der Psychotherapeut Joachim Bauer. Wenn ein Kind sich schämt, ohne die anschließend notwendige Katharsis, die Befreiung aus der Scham, zu erleben, so ist dies in der Tat ein bedrückendes und nachhaltiges Erlebnis. Eines, das ein Leben lang belastender, auch unbewusster Begleiter bleiben kann. „Die Beschämung von Kindern korreliert mit Depression, Aggression und Delinquenz – das zeigen alle relevanten Untersuchungen“, sagt Bauer. „Kinder, die viel beschämt werden, werden später in hohem Maße aggressiv.“ Die Scham erfasse dabei die gesamte Person, sie betone das „Ich“ an einer Handlung oder einem Verhalten, „sie ist eine globale Selbsteinschätzung“, so Bauer.

Insofern ist Scham von der Schuld zu unterscheiden. Schuld beziehe sich immer auf ein konkretes Verhalten, das misslungen sei oder zu sein scheine, und fokussiere weniger auf die Person.

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