Schlafen die Bibliotheken?

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Wenn sich Zeitungen verewigen: "Frankfurter Allgemeine", "Neue Zürcher", "Zeit" und "Spiegel" werden auf CD-ROM Jahrhunderte überdauern.

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Wenn sich Zeitungen verewigen: "Frankfurter Allgemeine", "Neue Zürcher", "Zeit" und "Spiegel" werden auf CD-ROM Jahrhunderte überdauern.

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Falls die warnenden Stimmen recht behalten, werden am 31. Dezember 1999, wenn zur Mitternachtsstunde die Jahrtausendkracher losgehen, rund um den Globus die Computer abstürzen, und das große Chaos wird da sein. Alles nur, weil die Leute, die vor ein paar Jahrzehnten Programme schrieben, zuwenig Phantasie hatten, um an den Datumssprung von 1999 auf 2000 zu denken.

Unterdessen drohen Medienmanager, Bibliothekare und Historiker das nächste Problem zu verschlafen. Die Folgen sind nicht so dramatisch wie die Lahmlegung des Luftverkehrs durch Serienabstürze von Computern, aber schlimm genug. Ein Problem, das seit Jahrzehnten immer dringender wird und dessen Kleckerlösungen Millionen verschlingen, könnte nämlich innerhalb kürzester Zeit elegant, billig und nachhaltig gelöst werden. Zugleich könnte man - zwei Fliegen mit einer Klappe! - die wissenschaftliche Arbeit in etlichen Fächern erleichtern. Einige Tageszeitungen, im deutschen Sprachraum allen voran die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" und die "Neue Zürcher Zeitung", machen von dem gewaltigen technischen Fortschritt, von dem hier die Rede ist, bereits konsequent Gebrauch. Ebenso Wochenzeitungen und Magazine: "Der Spiegel" seit Jahren, "Die Zeit" neuerdings. Wie es derzeit aussieht, wird es aber mindestens noch Jahre dauern, bis die anderen nachziehen.

Die Rede ist von der Möglichkeit, ganze Zeitungsjahrgänge auf einer einzigen, wenige Gramm schweren CD-ROM zu speichern. Wer meint, dabei handle es sich bloß um die kommerzielle Nachnutzung des vergänglichen Produkts Zeitung, liegt völlig daneben. Man muß nicht Zeitgeschichte studiert haben, um zu wissen, mit welcher Intensität alte Jahrgänge wichtiger Zeitungen genutzt werden - etwa die "Arbeiter-Zeitung", die "Reichspost" oder die "Presse", um einige österreichische Beispiele zu nennen. Die CD-ROM lediglich als kurzlebiges Medium einer schnellebigen jungen Medienlandschaft zu sehen, greift viel zu kurz. Tatsächlich bietet sie sich an, eines der schwierigsten konservatorischen Probleme wissenschaftlicher Bibliotheken ein- für allemal zu lösen.

Zeitungen sind ein eminent wichtiger Teil des Gedächtnisses der Menschheit, Quellen der Geschichtswissenschaft und anderer Disziplinen. Doch kein Papier zerfällt so schnell wie Zeitungspapier. Die Tageszeitungen der Zwischenkriegszeit nähern sich der Auflösung, ganz zu schweigen vom Zustand der nach dem Zweiten Weltkrieg auf besonders schlechtem Papier gedruckten Blätter. Das Konservieren des Papiers ist teuer, den Bibliotheksbenützern stehen immer mehr Zeitungen nur noch auf Mikrofilm zur Verfügung. Die Arbeit mit dem Mikrofilm ist eine Qual für die Augen, und auch seine Haltbarkeit ist begrenzt. Es wäre besser, die zerfallenden Zeitungsjahrgänge Seite für Seite "als Bild" elektronisch zu speichern, denn damit wäre das Problem, ihren Inhalt zu erhalten, für alle Zeiten gelöst. Auch eine CD-ROM hält nicht ewig, doch kann man sie - anders als den Mikrofilm - schnell, billig und ohne Qualitätsverlust immer wieder umkopieren.

Die neuen CD-ROM-Editionen der "Frankfurter Allgemeinen" oder der "Neuen Zürcher", des "Spiegel" oder der "Zeit", stellen demgegenüber freilich einen Quantensprung dar. Hier ist der Text nicht "als Bild" gespeichert, sondern so, wie er von einer Textverarbeitung erfaßt wird: Byte für Byte, Wort für Wort. Dies macht es möglich, den vollen Text eines Jahrgangs einer großen Tageszeitung mit allen Beilagen locker auf einer CD-ROM unterzubringen. (Mit den Fotos ist es eine andere Sache, die sind Speicherfresser. Der wöchentlich erscheinende "Spiegel" bringt aber trotzdem einen vollen Jahrgang mit allen Bildern auf einer einzigen Scheibe unter.)

Die Byte-für-Byte-Speicherung ermöglicht die Volltextsuche, und die stellt tatsächlich einen Quantensprung bei der Recherche dar. Da steht wirklich einmal ein simples Wort für eine gigantische Sache. Volltextsuche heißt anhand zweier konkreter Beispiele: Man benötigt nicht einmal einen PC jüngster Generation, um sich innerhalb von Sekunden die Titel aller 1.438 (!) Beiträge auflisten zu lassen, in denen in der "Frankfurter Allgemeinen" im Lauf des Jahres 1996 das Wort "Arbeitslosigkeit" vorgekommen ist, oder um alle 21 Artikel desselben Jahrgangs der "Neuen Zürcher" zu finden, die den Namen Keynes enthielten, um zu entscheiden, welche man übergehen und welche man lesen will.

Damit tritt die künftige wissenschaftliche Erschließung von Zeitungsinhalten in ein völlig neues Stadium. Und dies in einer Zeit, in der die Bedeutung der Massenmedien für die Politik größer ist als je zuvor. Bei der Erforschung der Politik des ausgehenden 20. Jahrhunderts durch künftige Historiker werden die politischen Berichte und Kommentare der Massenmedien mit der ganzen Bandbreite ihrer fachlichen, intellektuellen und ethischen Niveaus, aber auch ihrer bekanntlich sehr unterschiedlichen Möglichkeiten, Wählergruppen zu beeinflussen, von Bedeutung sein. Dissertanten der Zeitgeschichte werden in den nächsten Jahrzehnten wohl mit Vorliebe in Zeitungen recherchieren, die ihnen mit allen elektronischen Suchmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Jedenfalls ist dies nicht von der Hand zu weisen. Wer je in alten Zeitungen einem Thema nachgegangen ist oder einen Artikel mit unbekanntem Erscheinungsdatum gesucht hat, weiß, welchen Zeitaufwand dies bedeutet.

Kehrseite der Medaille: Printmedien, welche diese Suchmöglichkeiten nicht bieten, werden bei den Historikern, die heutige Vorgänge recherchieren, wohl ins Hintertreffen geraten, was leicht zu Einseitigkeiten führen kann: Ein weiterer Grund, warum es nicht nur ihrem jeweiligen Marketing dient, sondern im allgemeinen Interesse liegt, wenn sich möglichst bald möglichst viele Qualitätszeitungen elektronisch verewigen.

Heute arbeiten praktisch alle Zeitungen mit der elektronischen Texteingabe und verfügen somit über die Datenbasis und damit über die wichtigste Voraussetzung für die Speicherung auf CD-ROM. Die Bibliotheken müßten, sollte man meinen, sehr daran interessiert sein, die Erhaltungsprobleme bei den laufend hinzukommenden Zeitungsjahrgängen durch optimale Lagerung und Benützungssperre der Originale zu vermeiden. Da sich die Medienverlage auf keine Normen einigen können oder wollen, könnten auch Vorstöße zur Normierung am ehesten von den Bibliotheken ausgehen. Diese könnten aber auch die Mehrheit der Verlage, die derzeit noch keine CD-ROM-Editionen ihrer Zeitungen auflegt, motivieren, das Textmaterial zumindest auf keinen Fall zu löschen, sondern es sicher zu archivieren, bis die Verfahren zur benützungsgerechten Aufbereitung noch billiger geworden sind.

Bisher hat man, jedenfalls öffentlich, noch nicht von Überlegungen etwa in der Österreichischen Nationalbibliothek gehört, ob man nicht die österreichischen Zeitungsherausgeber einmal um einen runden Tisch versammeln und mit ihnen besprechen könnte, wie sich die elektronische Archivierung in ein System bringen ließe. Die Ausdehnung der Ablieferungspflicht von den gedruckten Pflichtexemplaren auf das gespeicherte Textmaterial ließe sich als Rute ins Fenster stellen. Medienwelt und Bibliotheken sollten jedenfalls diese Möglichkeiten, welche die rasante technische Entwicklung bietet, nicht verschlafen.

Die beliebteste Ausrede, eben diese schnelle Entwicklung lege es nahe, abzuwarten, sticht nicht. Wenn eine CD in naher Zukunft tatsächlich ein Mehrfaches der heute möglichen Datenmenge aufnehmen kann, wird man eben auch das Bildmaterial auf ihr speichern. An der Erschließung des Textmaterials ändert das nichts. Was aber die überfällige Normierung betrifft: Sie ist nicht Ergebnis einer technischen Entwicklung, sondern einer Übereinkunft.

Die Furche wird von nun an die CD-ROM-Editionen von Printmedien testen und über das Ergebnis regelmäßig berichten.

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