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Fachleute schlagen Alarm: Immer früher und immer öfter erkranken Kinder und Jugendliche an Depressionen.

Hannelore Reicher vom Institut für Erziehungs- und Bildungwissenschaften der Universität Graz präsentiert erschreckende Zahlen: Mehr als fünf Prozent aller Kinder und Jugendlichen sind bereits an schweren Depressionen erkrankt, weitere zehn Prozent zeigen deutlich depressive Symptome. Betroffen sind vor allem Mädchen: Sie leiden fast zweimal so häufig an Depressionen wie Buben.

Die Diagnose von Depressionen bei Kindern ist noch schwieriger als bei Erwachsenen: Depressive Kinder sind oft weniger niedergeschlagen als ständig gereizt. Alles ist fad und öd. Manche Kinder werden zusehends apathisch, die anderen dagegen hektisch und nervös, die Leistungen lassen nach. "Da heißt es dann schnell: Das sind faule und schlimme Schulkinder! In Wirklichkeit sind es traurige Kinder", weiß Reicher. Depressive Kinder können sich nicht mehr in ein Spiel vertiefen, ziehen sich zurück, leiden an Schlafstörungen, verlieren Gewicht oder nehmen plötzlich zu. Selbstvorwürfe und Grübeleien über die eigene Wertlosigkeit steigern sich im schlimmsten Fall bis zum Selbstmord.

Fehlende "Antennen"

Dabei könnten Eltern diese Warnzeichen durchaus erkennen - sofern sie "emotionale Antennen dafür haben", wie Hannelore Reicher sagt. Genau diese Antennen scheinen aber oft zu versagen. Gestresst von eigenen Sorgen wissen Eltern oft wenig von ihren Kindern. Nicht zu Unrecht macht das Schlagwort von der "Wohlstandsverwahrlosung" die Runde: "Geht materieller Reichtum mit emotionaler Verarmung einher, dann dürfen wir uns über die traurigen Kinder der Spaßgesellschaft nicht wundern", gibt Reicher zu bedenken. "Unsere Welt verlangt von Kindern und Jugendlichen oft zu viel und gibt ihnen zu wenig." Diese äußere Unsicherheit kann verbunden sein mit innerer Unsicherheit oder Leere, sie kann in depressive Entwicklungen münden oder aber das innere Vakuum wird anders gefüllt, etwa mit Drogen, Alkohol oder Gewalt. "Kinder brauchen innere Sicherheit und emotionale Resonanz, um sich geborgen und verwurzelt zu fühlen", betont Reicher, "und sie brauchen beflügelnde' emotionale und soziale Ressourcen und Kompetenzen, um das nicht immer einfache Abenteuer Leben glücklich zu bewältigen."

Zu wenig Nähe, zuwenig Anerkennung, zu wenig Gespräch. Nicht nur zu Hause, sondern auch in der Schule. Eine aktuelle Untersuchung aus der Steiermark zeigt, dass Lehrer von Schülern, aber auch Schüler untereinander kaum mehr etwas voneinander wissen. Versagt also auch das System Schule? "Das sind unsinnige Pauschalurteile", wehrt sich Franz Sedlak, Leiter der "Schulpsychologie Bildungsberatung" im Bundesministerium für Unterricht und Kunst. Er unterstreicht aber, dass in der Schule als Vorbeugung gegen Depressionen letztlich nur eines hilft: "Jemanden aus seiner Isolation herausholen und ein Netz bauen, in dem sich Kinder und Jugendliche gehalten fühlen. Daran können alle mitwirken: Eltern, Lehrer, aber auch Mitschüler!"

Es herrscht also Redebedarf. Doch Zahlen sagen mehr als Worte: Die über 70 Beratungsstellen der "Schulpsychologie Bildungsberatung" in den Bundesländern sind schon seit vielen Jahren immer überlastet. 140 Schulpsychologen in Österreich stehen einer Million Schülern gegenüber, die psychologische Hilfe bräuchten.

Liebe oder Antidepressiva?

In welchem Ausmaß depressive Kinder und Jugendliche auch medikamentöse Hilfe brauchen - daran scheiden sich die Geister. Während Psychiater eher für Antidepressiva plädieren, beurteilt Hannelore Reicher diese Entwicklung sehr kritisch: "Gerade bei Kindern und Jugendlichen ist eine Depression mehr als ein biochemisches Ungleichgewicht in den Botenstoffen des Gehirns! Wenn unsere Kinder nicht funktionieren, sollen wir dann einfach ein Pulverl einwerfen und schon sind sie wieder funktionsfähig in unserer Spaß- und Erlebnisgesellschaft?" Pharmafirmen würden sich über diese Symptombekämpfung zwar freuen und eine Tablette könne unter Umständen den Grauschleier auch wegnehmen, meint Reicher. "Aber die inneren Nöte und die Konflikte des Kindes bleiben ungehört."

Buchtipp:

DEPRESSIONEN IM KINDES- UND

JUGENDALTER. Erkennen - Verstehen - Helfen. Von Christiane Nevermann und Hannelore Reicher

Verlag Beck, München 2001

256 Seiten, broschiert, e 12,85

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