Schweigen klagt doppelt an

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Mißbrauchstäter sind zumeist Vorsatztäter, die mit einem hohen Maß an intellektueller Planungsfähigkeit ausgestattet sind, mit sehr viel Phantasie an ihr Vorhaben herangehen und zu einem großen Teil - die wissenschaftlichen Ergebnisse schwanken zwischen 40 und 50 Prozent - Wiederholungstäter sind. Das bedeutet, daß es sich in vielen Fällen weder um erstmalige noch um einmalige Übergriffe handelt, sondern daß das Opfer häufig über viele Jahre - und zwar mit zunehmender Intensität - sexuellen Gewalthandlungen ausgesetzt ist, ohne in der Lage zu sein, sich dagegen zu wehren. Schlimmer noch: die Kinder fühlen sich häufig auch noch schuldig ("Ich habe mich nicht gewehrt", "Er liebt mich doch") und für die Folgen verantwortlich. Eines der wirksamsten Druckmittel ist deshalb die ausgesprochene Drohung, bei Verrat aus der Familie verstoßen, sprich: in ein Heim gesteckt zu werden oder, als subtilere Variante, die geliebte Person ins Gefängnis zu bringen und damit zu verlieren. Viele Täter geben den Kindern auch das Gefühl, daß diese die Übergriffe stoppen könnten, wenn sie wollten, und steigern damit noch deren Schuldgefühle. Vor allem der "liebevoll" vorgehende Täter löst heftige Ambivalenzen aus: Im Widerstreit von Zuneigung und Ekel, Liebe und Haß, Angst und Loyalitätsgefühlen gerät das Opfer in ein unlösbares Dilemma. Oft verteidigen sich Täter ja gerade dadurch, indem sie die Grenzen zwischen der dem Kind zustehenden Zärtlichkeit und sexuellen Übergriffen verwischen, im Glauben, daß diese "Grauzone" nicht geahndet wird.

Faßt man die Situation von kindlichen und jugendlichen Opfern zusammen, so ist mit aller Deutlichkeit darauf hinzuweisen, daß jedes Kind sexuellen Übergriffen ausgesetzt sein kann. Und daß niemand, und sei er noch so seriös und angesehen, von vornherein als Täter auszuschließen ist.

Die Strategien der Annäherung und Verführung richten sich, grob eingeteilt, nach dem jeweiligen Lebensalter des Kindes, umfassen aber immer auch ganz persönlich abgestimmte Lockmethoden, die der Täter im Vorfeld sondiert hat, sowie den Aspekt, dem Kind einen Wunsch zu erfüllen oder eine Freude zu machen.

Es ist nicht der Wert eines Geschenks, sondern die Sehnsucht nach Bedürfnisbefriedigung, die beim Kind die Wachsamkeit vermindert, auf Ratschläge vergessen läßt, geübte Widerstände beseitigt und persönliche Prioritäten vor Erziehungsregeln stellen läßt.

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