Seelen-Sound, Klinik-Beat

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Wenn Musik mehr sagt als tausend Worte: Olaf Zeigert ist Musiktherapeut und arbeitet mit psychisch erkrankten Menschen. Das Motto lautet: Heilsam ist, was gut tut. Eine Reportage aus der Psychiatrie.

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Wenn Musik mehr sagt als tausend Worte: Olaf Zeigert ist Musiktherapeut und arbeitet mit psychisch erkrankten Menschen. Das Motto lautet: Heilsam ist, was gut tut. Eine Reportage aus der Psychiatrie.

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"Ich hab noch nie ein Instrument gespielt", sagt die Patientin. In ihrer Akte steht: Bipolare Störung und suizidale Äußerungen. Ihr Hausarzt hat sie vor drei Tagen in die Psychiatrie geschickt. Lange hat Dagmar* versucht, die Fassade aufrecht zu halten. Im Job funktionierte das, zuhause brach sie regelmäßig zusammen. Die 45-Jährige verlor sukzessive die Kontrolle über ihr Leben. Letzte Woche war sie zu schnell mit dem Auto unterwegs. "In der Kurve hab ich mir gedacht: Noch schneller, und ich bin weg ..." , erzählt sie. Auf der Station fühlt sie sich aufgehoben. "Meine Schutzhülle fällt langsam ab." Dagmar trägt einen Kurzhaarschnitt, graue Leggings und neonorange Pantoffeln. Auf ihrem Schoß hält sie ein Saiteninstrument, das einer gewölbten Zither ähnelt.

"Das ist eine Körpertambura", erklärt Olaf Zeigert, "ihre Schwingungen werden nicht nur vom Gehör, sondern auch über die Haut empfangen." Der 33-Jährige ist Musiktherapeut auf einer österreichischen sozialpsychiatrischen Akutstation. Dagmar fängt vorsichtig - nur mit den Zeigefingern - an, über die Saiten zu streichen. Vier Töne, die sich siebenmal wiederholen. Sie schließt die Augen. "Bitte nicht lachen", sagt sie. Dann reißt sie die Augen wieder auf: "Oh, das zittert ja total im Finger!" Zeigert setzt sich ans Klavier. "Versuchen Sie mal, aus Ihrem Kopf herauszugehen", sagt er, und spielt ein paar langsame, tiefe Akkorde.

Ablenken und Stabilisieren

Dagmar traut sich. Sie setzt noch einmal an. Minutenlang musizieren sie zusammen, die Klaviertöne klettern höher, bleiben aber ruhig. Die Klänge der Körpertambura schwingen unaufdringlich durch das Zimmer. Dagmars Gesichtszüge entspannen sich. Danach wird sie erzählen, dass sie Farben vor ihrem inneren Auge sah: Orange, Gelb, gleißendes Weiß.

"Es geht hier vor allem darum, die Patienten aus ihren Gedankenkreisen herauszuholen", sagt Zeigert. Auf der Akutpsychiatrie bleibt ihm oft wenig Zeit. Manche Patienten sind nur ein paar Tage da, durchschnittlich verbringen sie zwei Wochen auf der Station. Die Musik soll zur Stabilisierung beitragen. "Die wirkliche Arbeit findet draußen statt. Ich kann da auch konfrontativ sein und sage meinen Klienten: Wenn Sie sich zuhause um keine Therapie kümmern, sehen wir uns vielleicht bald wieder." Zeigert arbeitet mit den verschiedensten psychischen Störungen. Zu seinen Patienten zählen Suchtkranke, Depressive, Schizophrene oder Suizidale genauso wie Essgestörte und andere.

Die Musiktherapie begreift Musik als Mittel zur nonverbalen Interaktion. Daher bietet sie sich vor allem für Menschen an, die im Gespräch nicht zugänglich sind, oder die über die Sprache keine Emotionen ausdrücken können. Wie David*. Als er in die Klinik kam, hatte er gerade seinen 18. Geburtstag hinter sich. David ist Autist. Niemand konnte einen Zugang zu ihm aufbauen, Wochen vergingen, keine Therapie bewegte ihn zum Sprechen. Zeigert war sein Musiktherapeut. Irgendwann nahm sich David die Ocean Drum, ein rundes Effektinstrument, das aussieht wie eine Kuchenbackform mit Membran, und mit dem sich ein Klang wie Meeresrauschen erzeugen lässt. David spielte sich selbst in Trance. Und dann brach es aus ihm heraus.

Der Autist und das Ozeanrauschen

"Es war absolut unerwartet", erinnert sich Zeigert. David erzählte von seiner inneren Welt, einer Art Riesenplanspiel wie das Computerspiel "SimCity". Unentwegt sei er damit beschäftigt, eine Stadt, Straßen, Parkplätze, Fußgängerzonen zu bauen. Dieser Einblick in Davids "Kopfsystem" bildete die Grundlage für weitere Therapien.

"Es gibt kein Richtig oder Falsch, es geht ums Ausprobieren, ums Improvisieren, ums Explorieren der Instrumente", so Zeigert, "das ist kein Musikunterricht." Die Patienten können sich neben den klassischen Instrumenten auch an solchen versuchen, von denen sie noch nie gehört haben: Rainmaker, Monochord, Steel Drum, Kalimba, Didgeridoo, Autoharp, Melodika, Kantele, Streichpsalter, Cajón - um nur ein paar zu nennen.

Die Wiener Schule der Musiktherapie betont das aktive Improvisieren, im Gegensatz zur rezeptiven Musiktherapie, bei der nur der Therapeut spielt oder gemeinsam Musik gehört wird. "Für mich geht es darum, mit dem Patienten zu interagieren, eine therapeutische Beziehung aufzubauen. Die Musik ist hier Mittel zum Zweck", so Zeigert. Vorgefertigte Rezepte, ein Schema F gibt es nicht: "Man kann nicht sagen: Dieses Instrument macht dies, und jenes macht das." Musik, Klänge und Spielweisen wirkten interindividuell. Auch die Zugänge der Therapeuten sind unterschiedlich, sein Ansatz sei ein tiefenpsychologischer.

Mit musisch geübten Personen zu arbeiten sei manchmal schwieriger, sagt der Therapeut. Sie täten sich oft schwer, einfach draufloszuspielen und seien weniger offen gegenüber Neuem. "Da muss man die Therapie adaptieren." Zurzeit behandelt er einen talentierten Gitarristen, der sich wegen seiner Alkoholsucht auf der Station aufhält. "Er darf die Singgruppe begleiten, das ist sowohl für ihn als auch die anderen ein Gewinn."

Der nächste Patient ist an der Reihe. Christoph, 20, hat ein Problem mit Aggressionen und leidet unter einer paranoiden Schizophrenie. Im September schlug er seinen Vater. Es ist sein dritter Aufenthalt in der Klinik. Im Moment ist er stabil, morgen wird er in die angeschlossene Tagesklinik entlassen. Das heißt: Morgens kommen, abends gehen. Er freut sich.

Acht Wochen verbrachte er auf der Station. Christoph trägt eine kurze Cargohose, Birkenstock-Sandalen und ein weißes T-Shirt. Er ist ein stiller, unsicherer Typ.

Klangschalen und Conga-Beat

Zeigert beginnt mit einer Achtsamkeitsübung und reicht ihm eine bronzene Klangschale. Das unscheinbare Instrument hat seinen Ursprung im alten Tibet. Christoph kennt es schon. "Das Ding schaut nach nix aus, aber der Sound ist immens", sagt er und fängt an, mit einem Schlägel kreisförmig an der Schalenkante entlangzureiben. Leise baut sich der Ton auf. Erst zaghaft, dann immer mächtiger breitet er sich aus. "Es ist ein zentrierender Klang", erklärt der Therapeut. Beide konzentrieren sich auf ihren Atem, so lange, bis der Ton verhallt ist. Zum Schluss darf sich Christoph ein Instrument wünschen. Er entscheidet sich für die Trommeln. Sie platzieren vier Congas im Raum, schmale, hüfthohe Handtrommeln aus Holz, die aussehen wie überdimensionale Eicheln. Die beiden Männer stehen sich gegenüber. Eine Conga klingt tiefer, die anderen drei höher. Der Rhythmus beherrscht den Raum, entwickelt sich, wird schneller, reißt mit. Sie sind konzentriert. "Auf den Atem achten, dass er nicht verloren geht!", ruft Zeigert über die lauten Schläge hinweg, "rausfallen, reinfallen!" Der Beat geht weiter. Dann kommen sie zum Ende. Christoph ist begeistert. "Was kostet so etwas?", fragt er. "Ab 100 Euro, wir können im Internet schauen", antwortet Zeigert. Es ist kaum vorstellbar, dass Christoph noch vor wenigen Wochen sagte, er sei nicht musikalisch. Heute gibt er an den Congas den Takt an. "Sie haben Rhythmusgefühl", attestiert ihm der Therapeut vor dem Abschied. "Sie können den Beat halten, das kann nicht jeder. Bleiben Sie dran."

* Namen von der Redaktion geändert

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