Sehnsucht nach der Gegenwelt
Nährt sich nicht alles wirklich Große unseres Lebens - Friede und Freude, Staunen und Dankbarkeit, Vertrauen und Liebe - aus anderen Quellen als jenen des Verstandes?
Nährt sich nicht alles wirklich Große unseres Lebens - Friede und Freude, Staunen und Dankbarkeit, Vertrauen und Liebe - aus anderen Quellen als jenen des Verstandes?
Haben Sie schon alle Geschenke gekauft und die Weihnachtspost erledigt?" habe ich vor einem Jahr an dieser Stelle gefragt. Um sogleich einzugestehen, dass auch ich Jahr für Jahr daran scheitere, der Advent-Hektik zu entkommen. Nichts davon hat sich geändert. Nur mein Wunsch "einfach loszulassen" ist heuer noch größer geworden. Und das, obwohl mir das Asoziale jedes weihnachtlichen Konsumverzichts Tag für Tag medial entgegendrängt. Denn: Wo Umsatz und Wachstum fehlen, da scheitere auch Wohlstand und Wohlfahrt. Sozial handeln hieße demnach: möglichst viel kaufen - und schenken!
Trotzdem spüre ich jetzt deutlicher als sonst die Sehnsucht nach jener "Gegenwelt" meiner Mönche am Berg Athos. Sie ist von "Geschenken" ganz anderer Art geprägt, die sich hartnäckig unseren Zwängen und Verlockungen entziehen.
Von vier dieser "Geschenke" des Mönchtums habe ich schon im letzten Advent berichtet:
von der Stille (sie öffnet weite Räume für Entschleunigung und Tiefe);
vom Leben mit "leichtem Gepäck" (denn "je mehr Du hast, desto mehr hat es Dich");
von der Demut (als Schutzwall gegen Maßlosigkeit und Hybris);
und von der Dankbarkeit ("wirklich glücklich sind nur die Dankbaren").
Ein fünftes "Geschenk" meiner Mönche möchte ich heute hinzufügen: "Sophia" rufen die Priester Nacht für Nacht in den Athos-Kirchen - und beschwören damit eine Weisheit, die nicht aus unseren Gehirnen kommt, sondern aus den Herzen.
Kein Mönch wird ernsthaft bestreiten, dass die Wissenschaft enorme Fortschritte gemacht hat. "Aber sie alle gehen nur in eine Richtung: nach außen", sagt einer von ihnen. "Was uns fehlt, ist der Fortschritt nach innen - um all den Erfindungen und Entdeckungen auch eine Seele zu geben." Als Werkzeug sei uns der Verstand gegeben worden, nicht aber als Sinn und Ziel des Lebens. "Das Herz, das ist der entscheidende Ort", sagen die Mönche.
Wurzeln des Humanums
"War denn Jesus ein Theologe?" fragt mich ein Mönch eines Abends herausfordernd. "Nein, er war es nicht! Und die Propheten, die Apostel? Keiner von ihnen war ein Intellektueller. Alle haben sie auf ihr Herz gehört - und ihr Gewissen. Wer also glaubt, ganz auf die Vernunft setzen zu können, der wird scheitern!"
Das ist eine Botschaft, die unseren Realitätssinn provoziert und zum Widerspruch reizt. Und doch: Nährt sich nicht alles wirklich Große unseres Lebens - Friede und Freude, Staunen und Dankbarkeit, Vertrauen und Liebe - tatsächlich aus anderen Quellen unseres Menschseins als aus jenen des Verstandes?
Gerade Weihnachten, das Fest der offenen Herzen, könnte uns daran erinnern, dass beide - Verstand und Herz - zwei unverzichtbare Wurzeln des Humanums sind. Wurzeln, die einander achten und ergänzen sollten, die aber aus bitterer Erfahrung allen Grund haben, den Raum des anderen nicht zu besetzen.
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