Sex in der Selbstoptimierungsgesellschaft

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Für Männer war sexuelle Potenz schon immer ein heißes Thema. Heute stehen beiden Geschlechtern medikamentöse Hilfsmittel für das Liebesleben zur Verfügung. Die Debatte über die "Lustpille" für die Frau wirft hier Licht auf neue Anforderungen und Rollenbilder.

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Für Männer war sexuelle Potenz schon immer ein heißes Thema. Heute stehen beiden Geschlechtern medikamentöse Hilfsmittel für das Liebesleben zur Verfügung. Die Debatte über die "Lustpille" für die Frau wirft hier Licht auf neue Anforderungen und Rollenbilder.

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Ein sonderlich angenehmer Zeitgenosse dürfte er nicht gewesen sein: Der marokkanische Sultan Moulai Ismail (1645-1727) führte zahlreiche Kriege, ließ sich von europäischen Sklaven einen gigantischen Palast errichten, größer als das Schloss Versailles, und war gefürchtet für seine Grausamkeit. Außerordentlich war auch seine Manneskraft, wenn man einer historischen Quelle glaubt. Demnach soll er 600 Söhne in 32 Jahren gezeugt haben; die weiblichen Nachkommen seiner 500 Haremsdamen ließ er nach der Geburt ermorden. Die österreichischen Anthropologen Elisabeth Oberzaucher und Karl Grammer haben in einer Studie berechnet, dass der Herrscher, um eine derartige Kinderschar in die Welt zu setzten, über die untersuchte Zeitspanne fast jeden Tag eine Frau hätte begatten müssen. 32 Jahre lang, ohne Auszeit. Ein hartes Stück Arbeit. Dafür erhielten die Forscher 2015 übrigens den Ig-Nobelpreis, eine an der Harvard-Universität vergebene Auszeichnung, die "das Ungewöhnliche feiern und das Fantasievolle ehren" soll.

Nashornpulver und Käfergift

Sexuelle Potenz war immer auch eine Insignie der Macht: Es ist kein Zufall, dass in "Potenz" das lateinische Wort für Kraft, Macht, Vermögen - "potentia" - steckt. Bereits Zeus, der oberste olympische Gott in der griechischen Mythologie, zeichnete sich durch eine außerordentliche Lendenkraft aus. Er unterhielt zahllose Liebschaften und zeugte zahlreiche andere Götter, Halbgötter, Nymphen und Sterbliche. Dabei schreckte er nicht vor heute verpönten Methoden zurück: Schönen Frauen näherte er sich bevorzugt in Verkleidungen, etwa als Stier oder Schwan. Auch einigen bedeutenden biblischen Gestalten wird - wenngleich in züchtigerer Form - große Potenz attestiert. So zeugte Jakob, der Sohn Isaaks, nicht weniger als zwölf Söhne, aus denen schließlich die zwölf Stämme Israels hervorgingen. Auch für gesellschaftlich machtlose Männer ist Potenz ein Weg, um sich kurzfristig Macht zu verschaffen - Stichwort sexualisierte Gewalt. Natürlich aber ist sexuelle Potenz auch schlicht und einfach ein Quell der Freude für alle Beteiligten.

Deshalb war der Verlust oder die Einschränkung der sexuellen Potenz für Männer seit jeher ein harter Schlag. Sowohl die Freuden des Liebesspiels als auch die phallische Zurschaustellung von Macht bleiben ihm verwehrt. Ein Mann, der - wie gesagt wird - keinen mehr hochbekommt, macht sich zum Gespött. Man muss nicht lange nachdenken, worauf sich das hässliche Schimpfwort "Schlappschwanz" bezieht.

Kein Wunder, dass Substanzen, um die verlorene oder angeknackste Manneskraft wieder herzustellen, stets hoch im Kurs standen. Potenzmittel sind wahrscheinlich im Umlauf, seit die ersten Urmenschen festgestellt haben, dass bestimmte Substanzen physiologische Wirkungen haben. Doch viele waren entweder wirkungslos oder gefährlich. Dass Nashornpulver im asiatischen Raum als Potenzmittel gilt, ist wohl allein der beeindruckenden Kraft des Tieres und der Analogie zwischen Horn und Phallus zu verdanken. Die in Europa seit der Antike verbreitete Spanische Fliege hingegen wirkt nachweislich; der Konsum allerdings ist mit hohen Risiken verbunden. Die Fliege - eigentlich ein kleiner, grün schimmernder Käfer -enthält das Nervengift Cantharidin, das die Harnwege reizt, wodurch eine Erektion entstehen kann. Eine Überdosis des Pulvers, das aus den zerstampften Insekten besteht, hat unangenehme Folgen wie Lebervergiftung, Kreislaufkollaps oder Nierenversagen und kann sogar tödlich enden.

1998 hatte die lange Suche der Menschheit nach einem funktionierenden und einigermaßen bedenkenlos einsetzbaren Potenzmittel ein Ende. In diesem magischen Jahr brachte die Pharmafirma Pfizer Viagra auf den Markt, das längst zum Synonym für eine ganze Reihe später entwickelter, ähnlicher Mittel geworden ist. Die himmelblaue Tablette ermöglicht jenen Männern, denen eine Erektion aufgrund von Erkrankungen wie Diabetes oder Koronarer Herzkrankheit eigentlich nicht mehr möglich ist, wieder ein Liebesleben -durchaus nicht immer zur Freude ihrer Ehefrauen oder Partnerinnen, denen in früheren Zeiten das Erlahmen der Manneskraft mitunter gar nicht unrecht war. Denn laut wissenschaftlicher Literatur ist davon auszugehen, dass mehr als 30 Prozent aller Frauen zumindest eine gewisse Zeit lang kein Verlangen nach Sex haben.

Die Lustpille und der Feminismus

Seit letztem Oktober ist in den USA ein Medikament zugelassen, das als "Viagra für die Frau" durch die Gazetten geisterte. Medizinisch gesehen ist das natürlich Unsinn. Der Viagra-Wirkstoff Sildenafil wirkt allein auf die Muskulatur der Schwellkörper im Penis, während das neue Mittel Flibanserin die Freisetzung von Botenstoffen im Gehirn der Frau beeinflusst und die sexuelle Lust begünstigt. "Addyi", so der Markenname in den USA, ist also nichts anderes als ein Aphrodisiakum. Dennoch wird das Mittel nicht zufällig als "Pink Viagra" bezeichnet.

In Europa ist eine Zulassung noch nicht absehbar -gut möglich, dass die Firma erst einmal abwartet, wie der Verkauf jenseits des Atlantiks läuft. Bevor die Substanz in den USA zugelassen wurde, hatte ihr die Arzneimittelbehörde FDA zweimal die Zulassung verweigert. Denn die Wirksamkeit von Flibanserin ist eher gering, und in der Zulassungsstudie klagte ein Zehntel der Probandinnen über unangenehme Nebenwirkungen wie Schwindel, Übelkeit oder Erschöpfung. In Kombination mit manchen Medikamenten oder Alkohol kann es sogar zu gefährlichen Nebenwirkungen kommen. Dann aber kam der Hersteller auf die clevere Idee, mit Frauenrechten zu argumentieren: Für Männer gebe es eine ganze Latte an Potenzmitteln, damit sie trotz widriger körperlicher Umstände Sex haben können, Frauen aber werde ein entsprechendes Mittel und damit ein erfülltes Sexualleben verweigert. Dies sei eine eklatante Benachteiligung. Viele Feministinnen schluckten diesen Köder und lamentierten über die himmelschreiende Ungerechtigkeit. Dem konnte sich das FDA-Gremium nicht widersetzen. Wer will sich schon vorwerfen lassen, die Rechte der Frauen mit Füßen zu treten? Diese Argumentation ebenso wie die Bezeichnung "Pink Viagra" zeigen, dass der Begriff der sexuellen Potenz längst die Geschlechtergrenzen überschritten hat.

Das "Jederzeit bereit"-Ideal

Jederzeit zum Geschlechtsakt fähig und willens zu sein: Diese Anforderung wird in der westlichen Gesellschaft zunehmend auch an Frauen gestellt. Das kann durchaus positiv gesehen werden: als Folge dessen, dass Frauen heute ihre Sexualität aktiv ausleben können und auch als Befreiung von alten Rollenbildern, in denen der Mann als Erobernder und die Frau als spät Nachgebende festgeschrieben sind. Es kann aber auch als Zwang betrachtet werden: nicht im altfeministischen Sinn, demnach die Frau im Patriarchat dem Manne allzeit verfügbar gemacht werden solle, sondern in Hinblick auf die heutige Selbstoptimierungsgesellschaft: Nicht einmal etwas so Intimes wie die Sexualität bleibt davon verschont, mit aller Gewalt den herrschenden Idealen angepasst zu werden. Und das heutige Ideal lautet nun einmal: jederzeit bereit.

Aber es gibt auch einen gegenläufigen Trend. Glaubt man Sexualforschern, steigt die Zahl der Männer, die ohne körperliche Ursache die Lust an der Sexualität verloren haben, ständig. Auch sollten Mächtige heute sehr vorsichtig sein beim Zurschaustellen von Potenz - das Delikt der sexuellen Belästigung ist nur eine Haaresbreite entfernt. Vielleicht handelt es sich bei der Potenz ja um ein sinkendes Kulturgut: einst ein Zeichen von höchstem Status, bald nur noch ein in unteren Gesellschaftsschichten hochgehaltenes Ideal.

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