Sich selbst zur Persönlichkeit machen

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Eltern und Pädagogen - beide stehen vor demselben Problem: Was heißt Lehren und Erziehen heute? Welche Prinzipien sind überhaupt noch gültig? Hier ein Plädoyer für ein Lehren als "Erklären mit Argumenten".

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Eltern und Pädagogen - beide stehen vor demselben Problem: Was heißt Lehren und Erziehen heute? Welche Prinzipien sind überhaupt noch gültig? Hier ein Plädoyer für ein Lehren als "Erklären mit Argumenten".

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Wenn man Kritik an der gegenwärtigen Pädagogik anbringen will, wenn man die Verfallsformen in der heutigen Schule kennzeichnen will, so geschieht das am besten an den der Schule und Pädagogik heimischen Begriffen. Ich denke hier an ihre grundlegenden Aufgaben, an das Lehren und Erziehen und an die Ermöglichung von Bildung, gemeint als allgemeine Menschenbildung. Es mag auffallen, daß hier Ermöglichung von Bildung, als Hinführung zur Bildung gesprochen wird und nicht von bilden.

Damit ist sogleich ein Grundsatz angesprochen, der in der gegenwärtigen Pädagogik häufig genug mißachtet wird. Die Pädagogik kann den Menschen nicht machen, sie kann seine Bildung nicht produzieren; Bildung ist nicht machbar, weder durch die gesellschaftlichen Umstände, wie es in der Tendenz der Theorie von Karl Marx liegt, noch durch ausgeklügelte psychologische Techniken, wie es auch hierzulande immer wieder - auf der Suche nach dem Nürnberger Trichter - versucht wird. Der Mensch ist eben nicht ein bearbeitbarer Gegenstand, er ist Person, der zur Freiheit und damit auch zur Verantwortung aufgerufen ist.

Das ist auch zu bedenken, wenn von Lehren und Lernen, von Erziehung und Haltung die Rede ist. Meine Überlegungen möchte ich mit einem Zitat des Hl. Augustinus beginnen. In seiner Schrift "De Magistro", das heißt "Über den Lehrer" schreibt er: "Wer würde so töricht sein, daß er seinen Sohn zur Schule schicken möchte, damit er bloß das lernt, was der Lehrer denkt? Nichts desto weniger befleißigen sich die Lehrer mit Worten sämtliche Lehren darzustellen, so wie es ihr Beruf ihnen aufträgt, selbst solche der Tugend und Weisheit. Also bleibt denen, die sich ihre Schüler nennen, nichts anderes als bei sich selbst zu prüfen, ob das, was ihnen gesagt wurde, wahr ist, das heißt, sie müssen, so weit ihre Kräfte reichen, jene innere Wahrheit betrachten, so erst werden sie lernen."

Dieses Zitat erscheint vielen veraltet, nicht zeitgemäß, nicht den Ergebnissen der modernen Lerntechnik und Lernpsychologie zu entsprechen. Moderne Didaktik und Methodik, die Psychologie des Lehrens und Lernens scheinen doch viele Ergebnisse hervorgebracht zu haben, die das Lehren und Lernen heute wirksamer und effektiver machen. Darauf kann hier im einzelnen nicht eingegangen werden. Vielmehr ist zu erklären, was Lehren und Lernen wirklich sei.

Lehren und Lernen soll zum Wissen führen. Das klingt zunächst banal; gewinnt aber dann seine differenzierte Bedeutung, wenn man sich einmal fragt, was denn Wissen sei. Wissen ist das eigene "Für-wahr-halten." Das eigene Für-wahr-halten ist, wie Augustinus schon sagte, an die Prüfung durch die Wahrheit in mir selbst gebunden. Alles andere wären pure Behauptungen, ohne Begründung. Verkürzt kann man sagen, daß wahres Lernen eine besondere Form von Erkennen ist; von einem Erkennen, bei dem mir derjenige hilft, der diese Erkenntnis schon vollzogen hat, und deshalb als Autorität gelten kann.

Damit scheiden alle Formen vermeintlichen Lehrens und Lernens aus, die eine bloße Sammlung von Wissensdaten zum Ziele haben, die Lernen als das Speichern von Daten ansehen, und Vernunft als Datenbank betrachten.

Zweifellos werden wir und unsere Schüler uns immer vieles merken müssen. Aber eine aus Bildung bezogene Wissensvermittlung muß immer auf Wissen als Erkenntnis von Wahrem bezogen sein, muß den Weg zur "Wahrheit" des zu Lernenden anbahnen und einfordern. Mit anderen Worten: Das Lehren und Lernen vollzieht sich im Argumentieren. Argumente sind Begründungen für die Wahrheit beziehungsweise Geltung des behaupteten Wissens.

Daraus ergeben sich für das Unterrichten und Lehren weitreichende Konsequenzen. Lehren ist nicht das Behaupten von Daten, Tatsachen, Ideologien, sondern ist das Erklären mit Argumenten. Das Lehren muß deshalb dialogisch genannt werden.

Schüler achten Damit sind einige wichtige Voraussetzungen und Forderungen an den Lehrer artikuliert.

* Der Lehrende hat jeden Schüler, jede Schülerin als Person beziehungsweise Subjekt zu achten. Das ist keine leere Formalität, das enthält die Verpflichtung ihn in seiner Personalität anzuerkennen; theologisch gesprochen ihn als Ebenbild Gottes in seiner grundsätzlichen Teilhabe an der absoluten Wahrheit zu achten.

* Das gilt für jeden Menschen, für jeden Schüler unabhängig von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Alter aber auch von Formen der Behinderung.

* Daraus erwächst die Forderung nach einem kindgemäßen Unterricht. Die Forderung wird gegenwärtig häufig mißverstanden. Kindgemäß heißt nicht, das Begründen und Argumentieren auszusetzen, sondern so zu versuchen, daß das Kind den Erkenntnisvorgang folgen kann. Alles andere wäre eine Mißachtung auch der Würde des Kindes.

* Das ist die wichtigste Voraussetzung: Jeder Unterricht muß anerkennen, daß der Mensch, Lehrer und Schüler, also auch sich durch seine Wahrheitsbindung definiert. Wo jene Bindung geleugnet wird, da verkommt das Unterrichten und Lehren zu einer sozialen Strategie oder es wird zur spaßigen Beliebigkeit.

Man kennt die scheinbar kinderfreundlichen Aussagen, der Unterricht müsse lustbetont sein, er darf nicht anstrengend sein, der Schüler darf sich jederzeit aussuchen, was er denn lernen will. Oder - auf der anderen Seite gibt es in der Schule den schleichenden Gesinnungsdruck mit Hilfe des Zeitgeistes, der Medien und insbesondere durch einen Unterricht, in dem nicht selbständiges Denken gelehrt wird, sondern das Lehren manipulativen Charakter annimmt.

* Dialogischer Unterricht schließt keineswegs die Autorität im pädagogischen Handeln aus. Sie ist zwar nicht eine Position der Macht, sondern Ausdruck der Wertigkeit im Argumentieren. Die Abschaffung der Autorität bewirkte die Abschaffung pädagogischer Verantwortung und gleichzeitig des Anspruches eines Lernens und Lehrens im Dialog, im Ringen um Weisheit.

* Der Dialog anerkennt in der Personalität aller Beteiligten die Gleichheit aller Menschen, sofern sie vernunftbegabt sind. Er anerkennt gleichzeitig die Ungleichheit des Menschen in der jeweils verschiedenen erreichten Höhe in den Argumenten und der Argumentationen.

* Das dialogische Prinzip für Unterricht, für Lehren und Lernen, darf nicht mit Kumpanei verwechselt werden. Ein Lehrer, der das allgemeine Duzen pflegt, ist noch kein wirklicher Dialogpartner. Man wird überhaupt auf den Verfall von Schule und Lernen hinweisen müssen, wenn Betroffenheit und Stimmung an die Stelle von Argumenten treten, wenn Mehrheiten oder der Zeitgeist als Begründung gelten.

* Das dialogische Prinzip als Forderung für das Lehren und Lernen verweist schon auf die mit jedem Unterricht immer auch verbundene Frage der Erziehung, wenn in der Verpflichtung zum Argumentieren gleichzeitig der Achtung vor dem Du Rechnung getragen wird.

Hilflose Familien Das Problem der Erziehung, das hier anzusprechen ist, gilt gegenwärtig als besonders schwierig. Familien, Eltern sind hilflos, Schulen versuchen sich auf das Unterrichten zu beschränken. Dabei ist von einem, den Menschen als Person achtenden Verständnis die Erziehung überhaupt nicht auszuschließen. Es sei denn, man bestreite menschliche Freiheit und Verantwortungsfähigkeit, man identifiziere sein Handeln mit triebgesteuerten Abläufen.

Dann ist Erziehung tatsächlich überflüssig. Eine andere Position hält Erziehung nicht nur für überflüssig, sondern auch für unmöglich. Sie geht davon aus, daß es keine allgemein verbindlichen Maßstäbe und Normen für Erziehung mehr gibt und wahrscheinlich nie gegeben hat. Wo diese fehlen, da fehlt der Erziehung die Orientierung.

Sichtbares Zeichen dafür ist die pluralistische Gesellschaft. Sie versteht sich als eine Gesellschaftsform, in der jeder Mensch selbst nach seinen Normen lebt, jeder seine eigenen, subjektiven Wertvorstellungen entwickelt; als eine Gesellschaft in der jeder die Freiheit der Entscheidung hat.

Erziehung wird als Zwangssystem diskriminiert; als Menschenformung, jedenfalls als Einschränkung der Freiheit, als ein System von Geboten und Verboten, die äußerlich auferlegt, und deren Einhaltung mehr oder weniger erzwungen wird.

Demgegenüber muß auf die Einleitung verwiesen werden, besonders auf das Zitat von Augustinus. Die Achtung vor dem Menschen kann Erziehung nicht, - wie vor allem im Nationalsozialismus behauptet - als Menschenformung verstehen. Es wäre aber falsch, sie deshalb überhaupt abzuschaffen. Im Gegenteil, in einer pluralistischen Gesellschaft, angesichts eines Menschen, dem die Wahrnehmung der eigenen Freiheit auferlegt ist, ist sie notwendiger denn je. Jeder Mensch ist in die Entscheidung gerufen. Es bleibt die Frage nach Absicht und Vollzug der Erziehung.

* Die Absicht der Erziehung des Menschen muß der Personalität entsprechen, das heißt, sie muß der Selbstbestimmung verpflichtet sein. Das ist keine abstrakte bzw. unverbindliche Formulierung. Selbstbestimmung heißt: sich von willkürlichen Wünschen, von den Beeinflußungen des Zeitgeistes, der Mächtigen, der bloßen Gewohnheiten zu befreien, von den Konventionen und dem nur Üblichen.

* Selbstbestimmung ist von purer und egoistischer Selbstverwirklichung zu unterscheiden. Selbstverwirklichung ist willkürlich und verfolgt die Bedürfnisse des Selbst. Selbstbestimmung ist der Versuch der Bestimmung seiner selbst unter einem Maß, unter einer Norm, die dem Menschen nicht einfach von außen aufgenötigt wird.

Natürlich müssen wir im Zusammenleben auch Normen und Gegenseitigkeit beachten. Aber die Erziehung zur Haltung zu einem begründeten Standort muß der inneren Stimme folgen, nicht den von außen auferlegten Gesetzen.

* Die Erziehung ist kein Zwang, sondern eben auch dialogische Führung, auf seine innere Stimme zu hören, sie sich vernehmlich zu machen, sie von Einflüsterungen des eigenen Vorteils, der eigenen Bequemlichkeit zu unterscheiden. Diese Stimme nennen wir Gewissen.

* Alle pädagogisch gemeinte beziehungsweise pädagogisch legitimierte Erziehung ist deshalb Gewissensbildung. Hier ist allerdings von einem häufig praktizierten Mißverständnis und Fehlverhalten zu warnen. Gewissensbildung heißt nicht, daß das Gewissen erst gebildet werden müsse. Vielmehr muß es als für den Menschen verbindliche Instanz anerkannt werden.

* Gewissensbildung ist Erziehung des Menschen unter der Voraussetzung, daß er ein Gewissen hat. Wenn wir jemanden als gewissenlos bezeichnen, so wird damit nicht behauptet, er habe kein Gewissen, sondern ihm wird unterstellt, daß er sich um den Anspruch seines Gewissens nicht kümmere. Gewissenerziehung heißt also, den Menschen zu helfen, daß sie lernen sich um ihr Gewissen zu kümmern.

* Das schließt zweierlei ein: Der Mensch muß lernen, dem Gewissensanspruch zu folgen; das Böse zu unterlassen und das Gute zuzulassen. Das Gewissen stellt ihm dieses mit absoluter Verbindlichkeit vor.

Modische Theorien Das zweite ist die Verpflichtung der praktischen Vernunft, sich in aller Redlichkeit die Frage nach dem zu stellen, was sein soll und was nicht sein soll. Da die Beantwortung dieser Frage gerade in der Gegenwart durch vielerlei Einflüsse verunsichert scheint, ist hier besondere Vorsicht geboten, bedarf es besonderer Anstrengungen, vor allem besonderer Redlichkeit, weil häufig genug Vorurteile und subjektive Wünsche das Urteil verunklären.

Gegenüber modischen pädagogischen Theorien ist folgendes festzuhalten. Erziehung setzt im Menschen ein Gewissen voraus. Rousseau, ein französischer Philosoph und Pädagoge im 18. Jahrhundert, sprach von der dreimal heiligen Stimme im Menschen. Wo diese Voraussetzung nicht anerkannt wird, da entartet Erziehung zu Zwang und Dressur, zur psychosozialen Manipulation. In beiden Fällen wird Bildung pervertiert, weil der Mensch in seiner Würde mißachtet wird.

Das gilt auch für den Fall, wo dem Kind Erziehung versagt wird, wo antiautoritäre Vorstellungen herrschen. Hier wird dem Kind die notwendige Hilfe und Unterstützung, Hinweis, Rat und Beispiel versagt.

Eine Vorstellung vom Menschen, die ihm das Gewissen abspricht, die dieses wie etwa bei Marx nur als Reflex der gesellschaftlichen Situation begreift, oder die das Gewissen als Über-Ich aus der Begegnung mit der Wirklichkeit und den eigenen Trieben entstehen läßt, kann keine dem Menschen gerechte Erziehung begründen.

Wenn eine humane Welt gefördert werden soll, wenn der Mensch seine Humanität entfalten soll, dann ist Erziehung notwendig. Der Mensch wächst nicht auf wie ein Baum oder eine Pflanze, nicht wie eine Ratte oder ein Hase; der Mensch ist nach einem großartigen Wort Pestalozzis als Persönlichkeit Werk seiner selbst. Er muß sich selbst zum wahren Menschen machen.

Der Autor ist em. Professor für Pädagogik derUnivrsität Wien. Nach einem Vortrag zur gegenwärtigen Diskussion für das Komitee christlicher Pädagogik.

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