Sie leiden an den Folgen des Tschernobyl-Unfalls

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In Weißrußland ist die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl nicht vergessen. Für eine Unzahl von strahlengeschädigten Kindern ist zu sorgen. Im folgenden ein Lokalaugenschein in einem Rehabilitationszentrum.

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In Weißrußland ist die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl nicht vergessen. Für eine Unzahl von strahlengeschädigten Kindern ist zu sorgen. Im folgenden ein Lokalaugenschein in einem Rehabilitationszentrum.

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Nur zwei Flugstunden von Österreich entfernt, beginnt das Elend der atomaren Verstrahlung der Bevölkerung. Rund 70 Prozent der Radioaktivität, die der ukrainische Todesreaktor von Tschernobyl freigab, gingen über Weißrußland nieder. Noch heute sind Tausende Hektar Ackerland unbrauchbar, nicht nur in den gesperrten Zonen, in denen eigentlich niemand mehr leben dürfte.

Die Realität sieht anders aus und viele machen daraus sogar ein Geschäft. In jüngster Zeit häufen sich Berichte, daß besonders Findige in den gesperrten Gebieten von leerstehenden Häusern Teile holen und sie billig in Minsk und anderen Städten als günstiges Baumaterial verkaufen. Daß diese Balken oder Fensterstöcke hochgradig verstrahlt sind, wird natürlich nicht erwähnt. Als Gegenmaßnahme wird nun damit begonnen, in den Sperrzonen mit Baggern die Häuser samt und sonders in riesige Gruben zu schieben und zuzuschütten.

Nur in Minsk und anderen großen Städten funktioniert die Versorgung mit strahlungsfreien Nahrungsmitteln einigermaßen. "Es gibt laufend Stichproben auf den Märkten und in den Geschäften, an der Stadteinfahrt finden immer wieder Kontrollen mit Meßgeräten statt," schildert ein junger Arzt auf der Fahrt vom Flughafen in die Millionenstadt.

Lebensmittel sind nach wie vor verstrahlt Das schreckt teilweise ab, allerdings hat die Landbevölkerung nichts davon. Dort sind Kontrollen selten, und immerhin, so schätzen Experten, sind heute noch rund 25 Prozent aller in Belarus produzierten Lebensmittel konterminiert. 70 Prozent aller Kühe erhalten ihr Futter aus gefährlich radioaktivem Gebiet.

Das Nest Rakov liegt eine Dreiviertelstunde westlich der Millionenstadt Minsk. Zum Camp geht es von der viel zu groß dimensionierten und viel zu schlecht ausgeführten Autobahn auf die dem Dorf gegenüberliegende Seite. Es ist eigentlich die "Sommerfrische" eines Chemieunternehmens und äußerlich eine Ansiedlung gesichtsloser Plattenbauten und Baracken.

Für acht Wochen müssen die Firmenangehörigen auf das Quartier verzichten. Denn mit der Pacht, die "Green Cross" (siehe Kasten) für das Feriendorf zahlt, kann das Unternehmen etwas verdienen. Es gibt nur Wald, Sumpf und extensiv bewirtschaftete Eintönigkeit. Aber: Das Tschernobyl-Desaster hat diesen Landstrich ausgeklammert. Ideal für kranke Kinder, die von Ärzten in zehn Regionen mit großer radioaktiver Belastung ausgesucht wurden.

"Expeditionen" nennt Sergej Oblyakov, Psychiater und ärztlicher Leiter des Camps, die Reisen in die verseuchte Provinz, die im Mai vorausgegangen sind. "Wir haben Kinder ausgewählt, denen an ihrem Wohnort keine ausreichende Betreuung zur Verfügung steht." Oder anders ausgedrückt: Von den 700.000 in konterminierten Gebieten lebenden Kindern haben diese etwas mehr Glück als andere.

Keinem der Kinder oder Jugendlichen ist etwas anzumerken. "Es steckt in ihnen drin", sagt der Kinderfacharzt Sergeij Lialikov: Schäden am Immunsystem, psychosomatische Disfunktionen. 40 Prozent haben Störungen des vegetativen Nervensystems, bei jedem vierten Kind ist der Knochenaufbau beeinträchtigt, viele haben Linsentrübungen - allen gemeinsam ist eine generell schlechte Konstitution.

In Rakow sollen sie physisch und auch psychisch aufgepäppelt werden. An letzterem liegt Roland Wiederkehr sehr viel. Er ist Vizepräsident von "Green Cross", ein unabhängiger Nationalrat in der Schweiz und selbsterklärter "Gegner des Tschernobyl-Tourismus'": "Es bringt doch nichts, wenn Kinder für 14 Tage in den Westen geschickt und dort verwöhnt werden! Dadurch werden Erwartungen geweckt, die unerfüllbar sind. 50 Prozent dieser Kinder wollen später einmal in den Westen und können nicht verstehen, daß die Länder, die sie so herzlich empfangen haben, sie als Erwachsene nicht wollen."

Die Regierung macht nur zögernd mit Das Hilfsprogramm von "Green Cross" will den Kindern in ihrem eigenen Land helfen. Die Regierung von Belarus macht zögernd mit. Im vierten Jahr werden diese Camps für die Opfer von Tschernobyl organisiert. Wiederkehr: "In den ersten zwei Jahren kam es vor, daß die Eltern die Kinder zum Bus brachten und fragten: Geht es nach England oder Österreich? Als man ihnen gesagt hat, daß man in Weißrußland bleibt, sind sie umgekehrt. Die waren nur auf die Geschenke für ihre Kinder aus!"

Das habe sich geändert, auch weil die Kinder nachbetreut werden. "Wir kommen im Herbst ein zweites Mal zu ihnen nach Hause", schildert Oblyakov das Projekt, "untersuchen sie noch einmal und geben dann individuelle Empfehlungen und Anweisungen an die Eltern und lokalen Ärzte."

Zuvor steht ein dichtes dreiwöchiges Programm im Camp. An den ersten beiden Tagen werden Proben der Darm- und der Mundflora genommen, im Blut wird nach Antikörpern gesucht, und Psychiater Oblyakov fahndet nach Auffälligkeiten aus seinem Fachgebiet. Melancholien, Depressionen und Antriebslosigkeit sind eher die Regel als die Ausnahme.

Die Kinder nehmen auch Platz in einem unscheinbaren Sessel, den der Minsker Professor Wassilij Nesterenko entwickelt hat. Der Direktor des Belarussischen Instituts für Strahlensicherheit gilt als - allerdings umstrittene - Koryphäe. Er messe, so erklärt Nesterenko, die radioaktive Verseuchung des Menschen. Das Ergebnis wird als "Ganzkörperwert" ausgeworfen.

Die Mediziner, die hier - alle in ihrer Freizeit - tätig sind, wollen zu Nesterenko ebenso wenig klar Stellung beziehen wie zu Felix Gastpar. Dem jungen Homoöpathen aus der Schweiz wird zwar freundliche Wertschätzung entgegengebracht, auf eine Diskussion über seine Methode läßt sich jedoch keiner ein: Grüntee, Spirulina, Saft von Weizengras, das ein paar hundert Meter entfernt extra dafür gepflanzt wird, und vor allem hochpotenzierte Globuli mit den sieben Hauptbestandteilen des radioaktiven Tschernobyl-Fallouts über Rußland. Ein Teil der Kinder darf von Gastpar betreut werden.

Eingeteilt sind die Kinder in jeder Hinsicht. Auch in einem Nachfolgestaat der Sowjetunion wird nichts dem Zufall überlassen. Frühstück um neun Uhr bedeutet nicht für alle langen und gesunden Schlaf. Das Kinderparlament tritt bereits um acht zur ersten der drei täglichen Sitzungen mit der pädagogischen Leiterin Valeria des Camps, Valeria Schefzov, zusammen. Jede der sechs Unterkünfte bildet nämlich eine "Stadt", die einen Bürgermeister und andere Funktionäre zu wählen hat, um gemeinsam alle Dinge zu regeln.

Neben dem durchschnittlich zwei Stunden pro Tag dauernden medizinischen Programm ist jedes Kind in einer Interessengruppe aktiv.

Oleg Borodin, 21 Jahre alter Biologiestudent aus Minsk, leitet die Ökologie-Gruppe. "Wir gehen hinaus, sammeln Pflanzen und kleine Tiere, um sie unter dem Mikroskop zu untersuchen." Für die Kinder sei das eine "fast revolutionäre Erfahrung, denn in der Schule hat Biologie keinen hohen Stellenwert. Es wird fast nur Theorie vermittelt." Selbst illustrierte Schulbücher wären kaum gebräuchlich.

Hier gibt es sie samt einschlägigen CD-ROMs, um Vergleiche mit der örtlichen Realität zu ziehen. Mit großem Eifer wird alles in Tabellen und auf Grafiken festgehalten und ausgedruckt. "Es ist schwer, die Kinder aus dem Labor rauszubringen. Sie vergessen sogar das Essen!" Oleg ist zufrieden.

Und zum Abschied gibt es Tränen Eine andere Schar Jugendlicher hat sich Stanislaw Smirnof angeschlossen. Der 53jährige Absolvent einer staatlichen Filmschule führt sie in die Grundbegriffe von Fotografie und Video ein. Smirnof ist ein außergewöhnlicher Mann. Ein Jahr nach der Reaktorkatastrophe drehte er in Tschernobyl drei Monate lang für einen Fernsehfilm mit dem sinnigen Titel "Landscape after the battle" (Landschaft nach der Schlacht) die Auswirkungen. Er bezahlte dieses Projekt mit schweren Beeinträchtigungen seiner Gesundheit.

Das "Personal" ist ein bunt zusammengewürfelter Haufen, den Idealismus, aber auch offene Opposition und das Nicht-akzeptieren-Wollen der Situation verbindet. Das Projekt dieser weißrussischen Frauen und Männer ist ehrgeizig, das ehrliche Engagement spürbar. Die Kinder danken es mit schier grenzenlosem Tränenfluß beim Abschied. Der direkte Vergleich zwischen den abreisenden und neu ankommenden Kindern läßt erahnen, wie sehr sich ihr Zuhause von dieser umsorgten Umgebung unterscheiden muß.

Information: Green Cross Green Cross (GCI) wurde 1992 auf Initiative des Schweizers Roland Wiederkehr und Michail Gorbatschow gegründet, der Präsident von GCI ist. Sitz ist Genf. GCI ist "non-governmental", also eine nicht von der Regierung getragene Organisation. Sie setzt sich mit eigenen Projekten und als Netzwerk-Organisation unter anderem für die Behebung der Schäden, die der Kalte Krieg hinterlassen hat, ein.

Green Cross Österreich: 1020 Wien, Hammer-Purgstall-Gasse 8/4, Tel. 2164120, Fax -14.

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