"Sie saugen Wissen auf wie ein Schwamm"

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Gisela Lück, Professorin für Chemie-Didaktik an der Universität Bielefeld, wünscht sich naturwissenschaftliche Experimente für Drei- bis Fünfjährige.

Die Furche: An der Universität Wien findet heuer erstmals eine Kinderuni statt. Was halten Sie von dieser Idee?

Gisela Lück: Das ist natürlich eine sehr schöne Initiative, weil Kinder ernst genommen werden und man ihnen gute Antworten geben möchte. Aber es ist natürlich für ein Bildungssystem wie das in Deutschland oder Österreich nur ein kleiner Tropfen auf einen sehr heißen Stein. Denn: Wen erreichen wir damit? Doch meist nur die Kinder von Akademikern, die überhaupt ein Interesse daran haben. Während das, was wir hier in Deutschland durchführen, nämlich die Bildung schon in die Kindergärten zu holen, eine viel größere Tragweite hat, weil hier alle Kinder erreicht werden - auch die Migrantenkinder. Ich bin nicht gegen Elitebildung, aber mich würde es mehr freuen, wenn man diesen Aufwand und dieses Geld in die Kindergärten bringen würde.

Die Furche: Sie plädieren für die Konfrontation von Kindergartenkindern mit Physik und Chemie in Form von leichten Experimenten. Warum?

Lück: Zum einen kommen Physik und Chemie in der Bildung generell zu kurz, auch in Österreich. Dabei bietet aber die unbelebte Natur die Grundlage für das Verstehen der belebten Natur. Man kann etwa einem Kind zeigen, dass Kreide die Kraft hat, Wasser aufzusaugen. Und dann kann man auch erklären, warum eine schlaffe Blüte, nachdem man sie gegossen hat, wieder aufrecht stehen kann.

Die Furche: Aber warum sollte man schon im Kindergartenalter damit beginnen?

Lück: Aus drei Gründen: Erstens haben wir entdeckt, dass bei einer freiwilligen Teilnahme an einer Experimentiereinheit und konkurrierenden Angeboten, etwa Fußballspielen, 70 Prozent der Kinder an den Experimenten teilnehmen. Zweitens haben wir in einem Erinnerungstest gesehen, dass sich rund 30 Prozent der Kinder ein halbes Jahr danach ohne jede Hilfe an die Experimente und ihre Deutung erinnern - und 20 Prozent dann, wenn man ihnen nur ein wenig hilft. Das bedeutet rund 50 Prozent Erinnerung - davon können wir in der Schule nur träumen. Es scheint also, als würden Kinder im Vorschulalter dieses Wissen aufnehmen wie ein Schwamm. Drittens - und das ist vor allem gesellschaftspolitisch relevant - haben wir eine große Nachhaltigkeit festgestellt: Wir haben 1.347 Biografien von Chemie-Studienanfängern untersucht, und 22 Prozent haben gesagt, dass sie als kleines Kind liebevoll an die Naturphänomene herangeführt worden sind. Diese drei Argumente - freiwillige Teilnahme, große Erinnerungsfähigkeit, lange Wirkung - zeigen, dass unser Weg richtig ist.

Die Furche: Damit widersprechen Sie dem Schweizer Lernpsychologen Jean Piaget, der 1926 gemeint hat, Kinder seien erst mit sieben Jahren zu logischem und mit zwölf Jahren zu abstraktem Denken fähig...

Lück: Viele der Aussagen Piagets sind richtig. Aber hinsichtlich seiner Behauptung, dass Kindergartenkinder noch nicht logisch denken könnten, habe ich meine Zweifel. Wir wissen heute, dass das kausale Denken an der Nahtstelle zwischen Kindergarten und Grundschule akzeleriert worden ist, dass wir also früher kausal denken können - möglicherweise durch mediale Einwirkung. Kinder sehen heute eine Stunde pro Tag fern! Und: Sie können logisch denken!

Die Furche: Viele haben die Sorge, dass durch frühzeitige Bildung im Kindergarten das freie Spiel der Kinder beschnitten würde...

Lück: Ich würde diese Sorge teilen, wenn es nur noch Drill gäbe. Das ist aber nicht der Fall. In den meisten Kindergärten dominiert noch immer das freie Spiel. Die Experimente sollten auch nur 20 oder 30 Minuten pro Woche umfassen. Wichtig sind darüber hinaus folgende Kriterien: Die Experimente müssen absolut ungefährlich sein; die Materialien müssen preiswert und leicht erhältlich sein - wie Wasser, Salz oder Zucker; das Experiment muss in 20 bis 30 Minuten zu einem absehbaren Ende kommen; es muss vom Kind selbst gemacht werden und immer gelingen; die Versuche sollten aufeinander aufbauen; und vor allem müssen die Kinder das Phänomen erklärt bekommen.

Die Furche: Das setzt eine gewisse Erklärungskompetenz der Kindergärtnerinnen und -gärtner voraus. Wie ist es derzeit darum bestellt?

Lück: Tatsache ist, dass Kindergärtnerin - zumindest in Deutschland und Österreich - einer der schlechtest qualifizierten und unterbezahltesten Berufe ist. Im Unterschied dazu erhalten Kindergärtnerinnen und Kindergärtner etwa an der Universität Bozen-Brixen eine akademische Ausbildung - und dann ein höheres Gehalt.

Die Furche: In Österreich plant man bis 2007 die Umwandlung der pädagogischen Akademien in pädagogische Hochschulen. Die Kindergärtnerinnenausbildung wird aber weiterhin mit der Matura enden...

Lück: Das ist sehr bedauerlich. Man sollte sich schon überlegen, ob es sich ein Land leisten kann, die wichtigsten Jahre seiner Kinder Menschen anzuvertrauen, denen man nicht die beste Ausbildung und Bezahlung bietet. Ich will damit nicht sagen, dass die Erzieherinnen derzeit nicht gut sind. Aber wir müssen ihnen zumindest durch regelmäßige Fortbildung das Rüstzeug an die Hand geben, noch besser zu werden.

Das Gespräch führte Doris Helmberger.

BUCHTIPPS:

HANDBUCH DER NATURWISSENSCHAFTLICHEN BILDUNG.

Theorie und Praxis für die Arbeit in Kindertageseinrichtungen.

Von Gisela Lück.

Verlag Herder, Freiburg/Br. 2003, geb., e 20,50.

LEICHTE EXPERIMENTE FÜR ELTERN UND KINDER.

Von Gisela Lück.

4. Aufl., Verlag Herder, Freiburg/Br. 2000, 160 Seiten, TB, e 9,10.

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