Sieben klassische Missverständnisse über das Bilderbuch

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Angepinnt von Inge Cevela

Viel zu dunkel!

Da wird behauptet, dass dunkle Bilder Kindern Angst machen. Etwa die Schwärze

der Nacht und daraus erwachsende Schatten und Gespenster - Bilderbücher also, in denen typische Kinderängste vor dem Einschlafen oder vor dem Monster unter

dem Bett thematisiert werden. Bei allen diesen "Nachtbüchern" ist es wichtig, dass sie gut ausgehen, die Buchfiguren ihre Ängste bezwingen oder zähmen lernen.

Zum anderen gibt es auch jene Bilderbuchkünstler wie John Rowe, die ihre Figuren gerne vor einem sehr dunkel gehaltenen Hintergrund mit starken Lichteffekten auftreten lassen; dadurch entsteht ein Gefühl von Tiefe und Magie, das die Phantasie anregt, das in manchen Fällen aber auch beunruhigt. Im Fall von John Rowes "Rabenbaby" gab es Proteste von Kindergärtnerinnen, die solche Beunruhigung nicht dulden wollten. Aber Kinder bekommen selten Angst wegen eines Bildes, vielmehr gibt es Bilder - und es sind besonders die dunklen - , die vorhandene (!) Ängste ansprechbar machen. Die ständige Bereitschaft zum Gespräch mit

den Kindern ist die beste Möglichkeit,

um diese schwer einschätzbaren

Situationen zwischen Lust und Angst

in Balance zu halten.

Viel zu frech!

Seit langem haben Eltern sich daran

gewöhnt, dass Bilderbücher hilfreiche "heimliche Miterzieher" sind: Sie sollen helfen, moralische Grundwerte zu festigen. Das tun Bilderbücher nach wie vor, wenn es um Freundschaft, Frieden, Solidarität geht. Sie tun es gar nicht mehr, wenn es um gute Manieren (Stichwort: Nasenbohren bis hin zum richtigen Gebrauch des Töpfchens) oder um unbedingten Respekt und Gehorsam gegenüber Erwachsenen geht. Diesbezügliche Textstellen in den Büchern werden mit stark karikierendem Strich in den Zeichnungen gerne überhöht und verdreht - sie dienen durchaus der Provokation. Und sie bieten wiederum auch hier Anlass und Anstoß zum Gespräch: Darüber, dass in verschiedenen Familien ein unterschiedlicher Ton herrscht, und darüber, was man selbst gut und was schlecht findet, was einem selbst wichtig ist und was nicht. Je offener solche "Überschreitungen" des guten Tons angesprochen werden können, desto weniger interessant ist die provokative Nachahmung. Wichtige medienpädagogische Erfahrung dabei: Buchhelden sind manchmal auch dazu da, dass man sich von ihnen distanziert.

Viel zu modern!

Kinder haben einen noch unverstellten Zugang zu Bildern. Sie kennen keine Hierarchie zwischen dem geliebten Kitsch und einem anspruchsvollen Bild, das ihre Fähigkeiten des Entschlüsselns herausfordert. Sie teilen nicht die Sorge mancher Eltern oder Pädagoginnen und Pädagogen um das "richtige" Kunstverständnis. Verzerrungen, Brechungen und andere Differenzen gegenüber einer detailgerechten und realistischen Wiedergabe von Wirklichkeit können von Kindern gut emotional verstanden und als Aufforderung zum Spiel und zur genauen Beobachtung akzeptiert werden.

Viel zu belastend!

Kinder interessieren sich für das Leben. Und für alle Fragen, die mit diesem Leben zu tun haben. Sie werden nicht gerne unterschätzt - aber sehr gerne richtig behandelt. Ihrem Wissensstand angemessen und ihrer persönlichen Reife entsprechend sollen ihnen die wichtigen Fragen des Lebens zu keinem Zeitpunkt vorenthalten werden. Gute Geschichten erzählen genau davon, gute Illustrationen spiegeln Befindlichkeiten, innere Konflikte. Geburt und Tod, der Sinn des Lebens; die Scheidung von Eltern, Arbeitslosigkeit, die Überforderung von Alleinerziehenden, Gewalt in der Familie und auf dem Schulweg - alle diese Themen müssen behutsam aber ehrlich, optimistisch aber nicht harmonisierend aufbereitet werden und dabei gleichzeitig und vor allem als erzählte Geschichten glaubwürdig bleiben!

Viel zu teuer!

Tatsächlich sind Bilderbücher in der Herstellung kostenintensiv,

die Verdienstmöglichkeit steht in keinem Verhältnis zum Aufwand.

Aber gerade weil Bilderbücher viel kosten, wollen die erwachsenen Käufer und Käuferinnen möglichst kein Geschmacks-Risiko eingehen - und entscheiden häufig danach, was einstens selbst gefallen hat ...

Deshalb: Buchgeschenke sind am schönsten, wenn man auch gleich die Zeit für einen gemeinsamen Bucheinkauf mitschenkt. So werden Unglück und Enttäuschung auf den Seiten von Schenkern und Beschenkten gering gehalten. Und - was vielleicht noch viel wichtiger ist: Die Formulierung eines eigenen Interesses, die Auswahl und anschließende Kaufentscheidung sind medienpädagogisch überaus wertvoll.

Wo das nicht geht: Bibliotheken sind Orte, wohin man Bücher - gegen geringes Entgelt - notfalls auch ungelesen zurückbringen darf!

Viel zu Baby!

Die Feststellung "Wer lesen kann, braucht keine Bilder mehr!", vor allem aus dem Mund von Volkschulkindern selbst, ist erstaunlich. Leider wird sie oft von Erwachsenen verstärkt, was angesichts der Tatsache, dass wir in einer von Bildern umgebenen Welt leben, angesichts der Tatsache, dass wir uns unser "Bild" von der Welt mit Hilfe von Zeitschriften und Magazinen gestalten, über Film und Fernsehen prägen, auf Werbeplakaten und Reiseprospekten vorgaukeln lassen, geradezu fahrlässig ist. Unsere textorientierte Ausbildung in Interpretation und Kritik müsste dringend durch eine Alphabetiserungskampagne im Lesen von Bildern ergänzt werden!

Viel zu hässlich!

Gegenüber jenen lieblichen Bilderbüchern, die die Welt der Zwerglein und Käferlein und Blümlein idyllisch gestalten, konzentrieren sich die Themen moderner Bilderbücher in Bild und Text auf konkrete Alltagserfahrungen von Kindern: auf ihre Erfahrung von Zerrissenheit und Unvollständigkeit in ihrer äußeren Lebenswelt ebenso wie auf ihre innerweltlichen Konflikte und Erfahrungen, Ängste und Nöte. Dabei gehen die Illustratorinnen und Illustratoren mit dem Aussehen ihrer Bilderbuchfiguren nicht gerade zimperlich um: Perspektivisch verzogen, mit langen Zähnen und kurzen Beinen und Pickeln im Gesicht karikieren sie mögliche Realitäten und sind jedenfalls weit vom Kindchenschema und Barbie-Ideal anderer Bilderbücher entfernt. Indem sie aber Mittel der Parodie und Ironie einsetzen, das Hässliche oder einfach auch nur Durchschnittliche ausdrucksvoll vorführen, finden sich Kinder durchaus selbst wieder. Solche Bilderbücher können eher zu Freunden und Helfern werden.

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