Sind wir auf dem Weg in ein Jahrhundert der Völkermorde?

19451960198020002020

Der einzige Weg, um religiösem Fundamentalismus entgegenzuwirken, ist die Förderung der Religions-und Glaubensfreiheit und einer Ethik der Verantwortung. Ein Gastkommentar.

19451960198020002020

Der einzige Weg, um religiösem Fundamentalismus entgegenzuwirken, ist die Förderung der Religions-und Glaubensfreiheit und einer Ethik der Verantwortung. Ein Gastkommentar.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Glaubens- und Religionsfreiheit ist weder selbstverständlich noch weltweit auf dem Vormarsch. Ganz im Gegenteil, die Entwicklung weist in eine andere Richtung. So ist dieses universelle Menschenrecht bei fast drei Viertel (74 Prozent) der Weltbevölkerung schwer eingeschränkt oder bedroht (Pew Study Center Report, 2013). Viele Völker, Gemeinschaften, Staatsoberhäupter und Regierungen in Europa, Asien, Afrika, Amerika, Australien und Ozeanien bemühen sich nach Kräften, Demokratie und Menschenrechte qualitativ zu verbessern, sich deren Grundsätze und Werte zu eigen zu machen und ihnen größere Geltung zu verschaffen. Doch viele Diktatoren, autokratische Regime und gewalttätige Gruppen verfolgen das entgegengesetzte Ziel: Gesetzlosigkeit statt Rechtsstaat, Herrschaft über das Volk statt Dienst an ihm

Unteilbare Grundrechte

Auch wenn mehr als 84 Prozent der Weltbevölkerung zu einer Religionsgemeinschaft gehören (ebd.), geht die Religions-und Glaubensfreiheit nicht nur sie an. Die Gedanken-,Gewissens-,Religions-und Glaubensfreiheit ist untrennbar mit der Meinungsfreiheit, der Versammlungsfreiheit und anderen wichtigen Bürger-und politischen Rechten verknüpft. Eine Kultur der Menschenwürde ist ohne Religions-und Glaubensfreiheit undenkbar. In meiner slowakischen Heimat, der ehemaligen Tschechoslowakei, erreichte der Drang nach Umsturz des totalitären kommunistischen Regimes 1988 nach der Kerzendemonstration in Bratislava seinen Höhepunkt. An diesem Freitag demonstrierten die Bürger friedlich mit Gebeten im Stadtzentrum für Religionsfreiheit und Bürgerrechte -eine Demonstration, die von den Polizeikräften gewaltsam niedergeschlagen wurde. Von diesem Zeitpunkt an waren die "Samtene Revolution" und der allgemeine politische Wandel von 1989 nicht mehr aufzuhalten.

Freiheit ist kein Selbstzweck und kann nur mit geteilter Verantwortung auf Dauer bestehen. Daher sind Forderungen nach größerer religiöser Freiheit meiner Meinung nach untrennbar mit einem aktiven Engagement der Religionsführer und -gemeinschaften für Frieden, Gerechtigkeit, menschliches Miteinander und Solidarität verbunden. Im 21. Jahrhundert tut dies mehr Not denn je. Seit der systematischen Vernichtung von 1,5 Millionen Armeniern in den Jahren 1915/16, dem ersten anerkannten Völkermord des 20. Jahrhunderts, erlebte die Menschheit in vielen Teilen des Erdballs ähnliche durch die Zugehörigkeit zu einer Religion, einer Rasse, einem Volk oder einer Volksgruppe motivierte Gräueltaten -Nazi-und Sowjet-Konzentrationslager, Gulags und Massengräber, Kambodscha, Ruanda oder Bosnien zeugen davon. Zu oft haben wir unsere Selbstverpflichtung, gegen Völkermord oder unmenschliche Behandlung vorzugehen, missachtet. In Wahrheit lassen wir Menschen in Not, die wegen ihrer Religion, ihrer Weltanschauung, ihrer Rasse, ihrer Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe, d. h. ihrer menschlichen Identität verfolgt werden, im Stich.

Auch das systematische Morden, Foltern, Versklaven, Entführen, Vergewaltigen und Verfolgen religiöser und ethnischer Minderheiten, das in den vom IS beherrschten Gebieten betrieben wird, erfüllt den Tatbestand des Völkermords. Dieser Standpunkt wird von parlamentarischen Gremien des Europarates, der EU, der Vereinigten Staaten, des Vereinigten Königreichs und Australiens sowie anderen Institutionen und Organisationen mit aller Deutlichkeit vertreten. Daraus ergibt sich die alarmierende Frage: Hat ein neues Jahrhundert der Völkermorde begonnen? Wie viele Gleichgesinnte bin auch ich der Überzeugung, dass ein besseres Jahrhundert möglich ist. Ein besseres, menschlicheres Jahrhundert ist unsere moralische Pflicht! Wollen wir gemeinsam friedlichere und bessere Zeiten erleben, müssen wir diese wiederholten Rückfälle in die Barbarei verhindern. Das heißt, die Verfolgung Unschuldiger stoppen, schutzlosen Opfern, die keine Stimme haben, helfen und die Täter ihrer gerechten Strafe zuführen. Ignoranz, Gleichgültigkeit und Angst spielen Fanatikern und Tätern in die Hände; unser Schweigen schadet den Opfern.

Neben der Verfolgung von Volksgruppen gibt es viele andere Formen der religiösen Unterdrückung - Gesetze gegen Gotteslästerung oder Konvertierung zu einem anderen Glauben, fanatische Gewalt, totalitäre Regime, die Glaubensbekundungen und Gewissens-und Gedankenfreiheit im Namen ihrer Ideologie und zur Gleichschaltung unterdrücken.

Erziehung zum Leben in Vielfalt

Ohne die Religionen und auch den Missbrauch der Religion (wie er von islamistischen Terroristen praktiziert wird) zu verstehen, wird uns das, was auf unserer Welt vor sich geht, und damit auch der Heilsweg verschlossen bleiben. Der Königsweg, um religiösem Fundamentalismus, gewaltsamem Extremismus und Terrorismus entgegenzuwirken, ist die Förderung der Religions-und Glaubensfreiheit und einer Ethik der Verantwortung sowie die Erziehung unserer Kinder zu einem Leben in Vielfalt. Wenn wir Ignoranz, Gleichgültigkeit und Angst unermüdlich den Boden entziehen, kann überall eine Kultur der Menschenwürde entstehen, die in unserem Jahrhundert ihre Früchte trägt.

| Der Autor ist Sonderbeauftragter für die Förderung von Religionsund Weltanschauungsfreiheit außerhalb der Europäischen Union |

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung