Sind wir (nicht) alle Briten?

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Jeder, der wollte, konnte letzte Woche rund um den Globus die Debatte über das Abkommen (für das sich die Trump 'sche Diktion "Deal" eingebürgert hat) im britischen Unterhaus und seine Ablehnung mit 202: 432 Stimmen via Lifestream verfolgen. Das Ambiente des ältesten Parlaments der Welt, das eher an mittelalterliche Universitäten als an seine kontinentalen Varianten (österreichisches Parlament oder der deutsche Bundestag) erinnerte, faszinierte.

Wie ist es möglich, dass diese altehrwürdige Institution sich seit dem Referendum im Juni 2016 in derartig aussichtslose Sackgassen manövrierte? Was sind die Ursachen für jene Paralyse britischer Politik, die nicht nur beachtliche Belastungen für die Briten und die 3,5 Millionen EU-Bürger in Großbritannien mit sich bringt, sondern die Demokratie als Regierungsform global in ein schiefes Licht rückt? Dazu einige Überlegungen.

Verlust des Sinns für das Mögliche

Den Anfang des Brexit-Dramas bildeten politische Fehleinschätzungen. Sie waren jedoch -wie Wortbildungen wie Grexit, Frexit, Öxit (die jetzt etwas seltener zu hören sind) zeigen, nicht auf Großbritannien beschränkt. Die Entscheidung David Camerons, parteipolitische Spannungen durch eine Volksabstimmung zu lösen, lag durchaus im Zeittrend. Und Referenden scheinen weiterhin ein probates politisches Instrument angesichts des Unbehagens in der Demokratie, da sie Bürgernähe signalisieren. Dazu kam eine ordentliche Portion politischen Leichtsinns nach dem Motto: Es wird schon nichts passieren. Diese Grundhaltung ist einerseits die Folge einer außergewöhnlich langen Zeit des Friedens und Wohlstands in Europa.

Doch sie ist auch typisch für unsere Gesellschaft, wie der deutsche Soziologe Ulrich Beck in seinem Buch "Risikogesellschaft" bereits in den 1980er-Jahren feststellte. Risikobereitschaft gilt weiterhin in allen Bereichen als eine wesentliche Voraussetzung für Erfolg. Vorsicht und konservative Abwägungen stehen hingegen, egal in welchem Lebensbereich, nicht gerade hoch im Kurs. Sie gelten als Zeichen von Schwäche. Dies verführt tendenziell zur Selbstüberschätzung und fördert politische Fehlurteile. Der damit einhergehende Mangel an Realismus ist demnach systemimmanent (vgl. Nida Rümelin: "Unaufgeregter Realismus. Eine philosophische Streitschrift", 2018).

Dies hat mehrere Ursachen: Die umwälzenden politischen wie wirtschaftlichen Transformationen der Weltglobalisierung der letzten 30 Jahre sind bisher weder in den Köpfen nationaler Politiker noch in jenen ihrer Wähler und Wählerinnen angekommen. Der Slogan der Brexiteers "take back control", der an den europäischen wie globalen Realitäten vorbeigeht, passt dazu treffend.

Auch dies ist jedoch kein britisches Spezifikum. Ein österreichischer Bundeskanzlers versprach vor einigen Jahren eine Entfesselung der Wirtschaft und die Schaffung hunderttausender neuer Arbeitsplätze. Doch der Aktionsradius nationaler Politik unter den Bedingungen der Globalisierung ist beschränkt. Die Europäisierung bietet einiges an Möglichkeiten der Einflussnahme auf Weltentwicklungen, doch auch sie bedeutet eine Abgabe von nationalen Kompetenzen. Die Tatsache, dass alle Staaten weltweit heute in ein dichtes Netz supranationaler sowie internationaler Regeln und Verpflichtungen eingebunden sind, beschränkt die nationale Souveränität und die demokratischen Mitsprache erheblich.

Zugleich prägt jedoch das Idealbild nationaler Unabhängigkeit weiterhin das Weltbild der Wählerschaft und ihrer Politiker. Die Debatte im britischen House of Commons zeigte dies wiederum exemplarisch. Kaum jemand sprach über die komplexen Realisationsbedingungen eines Austritts aus der EU, und die internationalen Konsequenzen dieser Politik blieben gleichfalls nebulös. Damit sind freilich weitere Spannungen vorprogrammiert.

Machtstrategischer Fokus

Ein Zweites: Nach öffentlicher Wahrnehmung ist Politik vor allem parteipolitisch strategisch ausgerichtete Machtpolitik. Ein Indikator dafür sind Interviews in den Medien, wo inhaltliche Fragen meist weit hinter jenen des "wer, gegen wen, zu wessen Nutzen, mit wem" rangieren. Dies trägt zusammen mit der Verrohung der politischen Sprache, die ausgehend von Rechtspopulisten inzwischen große Teile des politischen Spektrums erfasst hat, wesentlich zur Diskreditierung von Politik bei, wobei diese vor allem nach 1989 sowieso einen schweren Stand hatte.

Die Hypothek des Staatskommunismus in Europa und der Sieg des wirtschaftlichen Liberalismus sowie die in etwa zeitgleich einsetzende Globalisierung verringerten die Bedeutung von Politik allgemein und damit auch der demokratischen Politik. "Mehr privat, weniger Staat" als Credo einer ganzen Epoche stellte staatliche Aktivitäten als generell ineffizient unter Generalverdacht.

All dies führte dazu, dass das Spezifikum von Politik, nämlich das Zusammenleben an Gemeinwohl-und Gerechtigkeitskriterien zu orientieren, aus dem Fokus geriet. Doch eben dies macht neben dem Diskurs und der Bereitschaft zur Abwägung die Dignität demokratischer Politik aus. Jener Typus des Politikers oder der Politikerin, die dem politischen Ambiente entspricht, ist machtstrategisch und technokratisch, möglichst flexible und politisch eher blass.

Theresa May, die ursprünglich gegen den Brexit war, entspricht diesem Klischee, wiewohl ihre Beharrlichkeit bewundernswert ist. Eine vorrangig machtstrategisch orientierte Politik tendiert im Übrigen zugleich dazu, ihr Gegenteil zu befördern: jene autokratischen Populisten, die heute die Schwachstellen der Demokratie ausnützen. Dies gilt vor allem auch für die mangelnden sozialen Sensibilitäten der letzten Jahrzehnte. Großbritannien hatte hier eine "Vorreiterrolle".

Die neoliberale Politik seit den 1980er-Jahren zerriss soziale Netze und begünstigte den Abbau und die Privatisierung öffentlicher Güter. Ähnliche Tendenzen bilden gegenwärtig den Nährboden für nationalistische Renaissancen in Europa. Die Verschlechterung der Lebensqualität, die soziale Unsicherheit verbunden mit der Konkurrenz billiger ausländischer Arbeitskräfte in den unteren Einkommensbereichen bilden ein beachtliches soziales Sprengpotenzial. Die verbesserten Standards in Freiheits-und Partizipationsrechten sind nicht genug (vgl. Samuel Moyn: "Not enough. Human Rights in an Unequal World", 2018).

Politisches Programm "Anything goes"

Die Nostalgie nach einer besseren Vergangenheit, vor allem unter Älteren, galt bisher vor allem in den ex-kommunistischen Staaten als Problem. Doch auch in Großbritannien war sie eines der treibenden Motive für die Entscheidung pro Brexit. Da gleichfalls in anderen Ländern des Westens durch den Aufstieg neuer Weltmächte ein Hegemonieverlust stattfindet, ist Ähnliches auch in anderen Ländern zu beobachten. Wenn Politik, wie Max Weber schrieb, die Fähigkeit ist, harte Bretter mit Augenmaß zu bohren, dann verlangt dies heute, schwierige Entscheidungen demokratisch durchzusetzen, wobei an den Realismus und nicht die Wunschvorstellungen der Wähler und Wählerinnen zu appellieren wäre.

Doch die Entwicklung geht, befeuert durch Boulevard-Blätter, in eine andere Richtung. Für Großbritannien ist der Sager von Boris Johnson noch im Ohr, dass die Fake News, die er regelmäßig von Brüssel nach London lieferte, ihm einen Kitzel der Macht gaben. Johnson verschwand nach dem Referendum, wurde dann britischer Außenminister und trat, als es brenzlig wurde, zurück. Sein Comeback ist nicht ausgeschlossen. Diese Art politischer Unverantwortlichkeit ist jedoch in einer Demokratie nur möglich, wenn auch eine beachtliche Zahl der Bürger und Bürgerinnen dies honorieren. Auch dieses Phänomen ist offenkundig kein britisches Spezifikum. Sein Erfinder war Berlusconi.

Die Brexit-Krise ist noch keineswegs durchgestanden und es ist unklar, wohin die weitere Reise Großbritanniens und damit auch Europas gehen wird. Gerade auch die bevorstehenden Europawahlen stellen vor die Frage, wie das demokratische politische Projekt gestärkt werden kann, damit es nicht eines Tages aufgrund eines Mangels an Realismus, Weitsicht, Wahrhaftigkeit und Kompromissbereitschaft scheitert.

Die Autorin ist Professorin für Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien sowie OSZE-Sonderbeauftragte im Kampf gegen Rassismus, Xenophobie und Diskriminierung

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